Lasst sie abstimmen!

Warum hat die spanische Regierung solche Angst vor Wahlen? Wenn es stimmt, was die internationalen Nachrichtenagenturen dieser Tage kolportieren, haben die Befürworter einer Unabhängigkeit Kataloniens derzeit keine Mehrheit, nur 41 Prozent sprechen sich demnach für eine Abspaltung vom Königreich aus. Ob das stimmt, müsste die Abstimmung zeigen, deren Durchführung das katalanische Parlament am späten Mittwoch abend beschlossen hat.

Die Regierung in Madrid will das Referendum aber um jeden Preis verhindern. Die stellvertretende Regierungschefin Soraya Sáenz de Santamaría nannte die Entscheidung des Parlaments einen »Gewaltakt«, wie man ihn nur von »diktatorischen Regimes« kenne.

Mit Diktaturen müsste sie sich auskennen, gehört sie doch selbst der Volkspartei (PP) an. Deren Vorläuferin, die Volksallianz (AP), wurde 1976 – wenige Monate nach dem Tod des spanischen Diktators Francisco Franco – von hochrangigen Vertretern des Regimes gegründet, um die »Werte« des Faschismus in die Demokratie hinüberzuretten. Das ist ihnen gelungen, denn die im Zuge der »Transición« ausgehandelte Verfassung von 1978 trägt die Handschrift der franquistischen Ideologie. So heißt es in Artikel 2, die Verfassung stütze sich »auf die unauflösliche Einheit der spanischen Nation, dem gemeinsamen und unteilbaren Vaterland aller Spanier«. Katalanen, Basken und andere im spanischen Staat lebende Völker sind für das Grundgesetz der spanischen Monarchie »Nationalitäten«, keine »Nationen«.

Jahrzehntelang konnten die Katalanen damit leben, auch wenn sich viele selbst noch nie als Spa­nier verstanden. Die Forderung nach der Unabhängigkeit war lange das Anliegen einer Minderheit. Das änderte sich ab 2010, als das spanische Verfassungsgericht auf Antrag der PP ein zuvor vom regionalen und vom spanischen Parlament sowie von den Katalanen in einem Referendum angenommenes neues Autonomiestatut für ungültig erklärte, unter anderem weil Katalonien darin als »Nation« definiert wurde.

Seither hat die PP jeden Kompromiss mit der Region verweigert – und damit die zunehmende Stärke und Radikalisierung der Unabhängigkeitsbewegung ganz entscheidend mit verursacht. Nun droht eine gefährliche Zuspitzung, wenn Madrid seine Drohung wahr macht und am 1. Oktober die Urnen beschlagnahmen lässt.

Kanada und Großbritannien haben im Fall von Québec bzw. Schottland gezeigt, wie man einen solchen Konflikt demokratisch handhaben kann: durch ein von der Zentralregierung akzeptiertes Referendum. In beiden Fällen war das Ergebnis der Beibehalt des Status quo. Wenn Madrid sich jedoch weiterhin weigert, den Katalanen eine Möglichkeit zur Entscheidung zu geben, bleibt Barcelona nur die Wahl zwischen bedingungsloser Kapitulation und der einseitigen Absage an das »Regime von ’78«. Am Mittwoch hat sich das katalanische Parlament für letzteres entschieden.

Erschienen am 8. September 2017 in der Tageszeitung junge Welt