Kinder auf der Flucht

Jhoselin wurde nur zwölf Jahre alt. Sie hatte den langen Weg von Ecuador bis zur Nordgrenze Mexikos hinter sich, als sie nahe der Grenze zu den USA von den Behörden aufgegriffen und in eine Unterkunft gebracht wurde. Dort sollte sie festgehalten werden, bis sie in ihr Heimatland zurückgeschickt würde. Doch wenige Tage nach ihrer Ankunft dort wurde sie im vergangenen März tot im Badezimmer der »Villa Hoffnung« aufgefunden.

 

Seither haben sich die mexikanischen Behörden offenbar wenig darum gekümmert, die Umstände ihres Todes aufzuklären. Das jedenfalls kritisierte am vergangenen Mittwoch die ecuadorianische Botschaft in Mexiko-Stadt bei einer Pressekonferenz. Vizeministerin María Landázuri prangerte an, daß Mexiko die in internationalen Abkommen für solche Fälle vereinbarten Verfahrensregeln nicht eingehalten habe. So sei das zuständige Konsulat nicht informiert worden, als das Mädchen aufgegriffen wurde. Erst nach deren Tod erfuhr die Botschaft von den Vorgängen – und bis heute haben die Diplomaten keinen vollständigen Einblick in die Akten bekommen.

Mexikos Außenminister José Antonio Meade wies die Vorwürfe am Donnerstag zurück. Man habe Quito fortlaufend über die Ermittlungsfortschritte in Kenntnis gesetzt. Bei einer Pressekonferenz versicherte er, man werde die Umstände von Jhoselins Tod »bis zur letzten Konsequenz« aufklären. Vor allem aber werde Mexikos Regierung eine umfassende Lösung für das Problem der minderjährigen Migranten anbieten. Dazu wollte er sich am Wochenende mit seinen Amtskollegen aus Guatemala, El Salvador und Honduras treffen. Aus diesen Länder kommen die meisten der Kinder und Jugendlichen, die versuchen, ohne Erlaubnis in die USA zu gelangen. Ihre Zahl nimmt seit Jahren dramatisch zu. Allein oder in Begleitung von Erwachsenen wagen Kinder und Jugendliche im Alter bis zu 17 Jahren die Flucht nach Norden. Sie hoffen, der Gewalt und der Armut in ihrer Heimat zu entkommen. Viele von ihnen haben bereits Verwandte in den USA.

Allein zwischen Oktober 2013 und Mitte Juni 2014 haben die US-Behörden an der Grenze zu Mexiko 52000 unbegleitete Kinder aufgegriffen – doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Hinzu kommen allein zwischen Januar und Mai mehr als 8000 Kinder, die noch in Mexiko von den dortigen Behörden abgefangen wurden, zumeist schon nahe der Grenze zu Guatemala. Am Dienstag beantragte US-Präsident Barack Obama beim Kongreß Sondermittel in Höhe von 3,7 Millionen Dollar, um die hohe Zahl von Flüchtlingen bewältigen zu können. Behördenvertreter sprechen bereits von »humanitärem Notstand«, während es vor allem in Kalifornien zu rassistischen Kundgebungen gegen die Schutzsuchenden kommt. Den Teilnehmern dieser Aktionen versicherte die US-Administration prompt, daß die aufgegriffenen Kinder »vorrangig« abgeschoben würden. Zugleich will Washington in lateinamerikanischen Medien mit einer Werbekampagne davor warnen, die Flucht in die USA zu wagen. Dabei soll nicht nur auf die drohenden Gefahren aufmerksam gemacht werden, sondern auch darauf, daß die Menschen in den USA kein Aufenthaltsrecht bekommen würden.

El Salvadors Außenminister Hugo Martínez forderte die US-Behörden auf, die Anliegen der jungen Ankömmlinge genau zu prüfen und sie nicht pauschal abzuschieben. Er habe auch US-Vizepräsident Joe Biden darauf aufmerksam gemacht, daß es für die Flucht viele Ursachen gebe, unter anderem den Wunsch danach, wieder mit Familienangehörigen zusammenzusein. Vorrang müßten die Rechte und der Schutz der Kinder haben. Zugleich arbeite man daran, schon im eigenen Land zu verhindern, daß Minderjährige allein auf die Reise geschickt werden oder in die Hände von Menschenhändlern fallen. El Salvadors neuer Präsident Salvador Sánchez Cerén habe seine Regierung angewiesen, Chancen für die Familien des Landes zu schaffen, damit sie Zugang zu Arbeit, Bildung, menschenwürdigem Wohnraum haben und andere Grundbedürfnisse erfüllen können. Nur so könne der Exodus Schritt für Schritt beendet werden.

Erschienen am 14. Juli 2014 in der Tageszeitung junge Welt