Kette der Unabhängigkeit

Dem alten Mann mit den grauen Haaren stehen die Tränen in den Augen. »Ich kann es auch heute noch nicht glauben«, antwortet er auf die Frage, ob er sich damals, unter Francisco Franco, einen Tag wie diesen habe vorstellen können. Er hat erlebt, wie nach dem Tod des Diktators das Katalanische wieder aus dem Untergrund hervorkam, es in den Schulen wieder Unterricht in der eigenen Sprache gab und Straßenschilder ausgetauscht wurden. Er hat die großen Demonstrationen in den 70er Jahren mitgemacht, bei denen Hunderttausende Katalanen für die Autonomie auf die Straße gegangen sind. Und er hat in den folgenden Jahrzehnten zugesehen, wie die Hoffnungen der Katalanen immer wieder an Blockaden aus Madrid zerschellten. Der demokratische Impuls der »Transición«, des Übergangs zur Demokratie, verpuffte spätestens ab Mitte der 80er Jahre. Bei der vom sozialdemokratischen Regierungschef Felipe González 1986 durchgeführten Volksabstimmung über Spaniens ­NATO-Mitgliedschaft stimmte eine große Mehrheit der Katalanen dagegen – doch spanienweit lag die Zustimmung bei 52 Prozent. Eine Reform des Autonomiestatuts scheiterte 2010 an einer von der rechten Volkspartei (PP) beim Verfassungsgericht in Madrid eingereichten Klage. Heute steht Joan mit seiner Frau María del Carme in der Menschenkette und demonstriert für die Unabhängigkeit. Er hat die Hoffnung auf eine Verständigung mit Madrid aufgegeben. Es ist der 11. September, der »Diada Nacional de Catalunya«, der Nationalfeiertag Kataloniens.

 

Joan nimmt seine Frau an die Hand. Links und rechts tun es ihnen unzählige gleich. Die Menschenkette reicht 400 Kilometer weit von der französischen Grenze im Norden bis in das Gebiet der benachbarten Valencianischen Gemeinschaft hinein. Hier hatte die spanische Regierung die Aktion verbieten wollen, doch Hunderte beteiligen sich trotzdem. An der Grenze zwischen den beiden autonomen Regionen reichen sich der katalanische Sänger Lluis Llach, der durch seine Protestlieder gegen das Franco-Regime auch international bekannt geworden war, und der valencianische Komponist und Pianist Carles Santos symbolisch die Hand. Stunden später spricht Carme Forcadell von der »größten Demonstration in der Geschichte Kataloniens«. Die Präsidentin des parteiunabhängigen Bündnisses »Katalanische Nationalversammlung« (ANC) erklärt, die Teilnehmerzahl liege noch über der vom vergangenen Jahr, als sich den Behörden zufolge mehr als 1,5 Millionen Menschen an einer Großdemonstration in Barcelona beteiligt hatten. Kataloniens Innenminister Ramon Espadaler nennt die Zahl von 1,6 Millionen Menschen. Allein in Barcelona habe sich eine halbe Million beteiligt, zu Zwischenfällen sei es praktisch nicht gekommen. Spaniens Innenminister Jorge Fernández Díaz reduziert dagegen im Fernsehen die Beteiligung auf ein Viertel.

Forcadell fordert unterdessen den katalanischen Präsidenten Artur Mas auf, das Votum der Menschen umzusetzen und im kommenden Jahr eine Volksbefragung über die Trennung von Spanien durchzuführen. »Wir wollen nicht länger warten«, weist sie dessen jüngsten Vorschlag zurück, die Entscheidung auf die nächsten Wahlen zu verschieben, die regulär 2016 stattfinden. Das ist auch für Adrià keine Option. Wir treffen den Aktivisten der Jugendorganisation Arran auf der Demonstration, zu der die linke Unabhängigkeitsbewegung am Abend aufgerufen hat. Ihre Parteien, Gewerkschaften und Verbände wollen verhindern, daß eine Loslösung Kataloniens nur einen Wechsel der Fahnen bedeutet. »Die EU ist nur ein weiteres Instrument des Kapitals zur Ausbeutung der Völker«, spricht sich Adrià für einen Austritt aus. Zugleich ist er skeptisch, ob das eine Mehrheit seiner Landsleute genauso sieht. »Wenn die Unabhängigkeit erreicht ist, geht der Kampf weiter«, sagt er.

Adriàs Organisation fordert neben der Unabhängigkeit auch Sozialismus und Feminismus. Auf ihren Fahnen ist das Symbol der im Kampf gegen die deutschen Nazis entstandenen Antifaschistischen Aktion zu sehen – mit dem Schriftzug Acció Antifeixista.

Zu diesem Zeitpunkt wissen wir noch nicht, daß in Madrid Neofaschisten den Festakt der katalanischen Vertretung in der spanischen Hauptstadt attackiert haben. Rund ein Dutzend zum Teil maskierte Angreifer stürmten den Saal, demolierten die Einrichtung und riefen Parolen. Vier Menschen wurden leicht verletzt, unter ihnen ein vier Jahre altes Mädchen, berichtete die Tageszeitung El Punt/Avui. Die Polizei griff zunächst nicht ein, erst später wurden zehn Mitglieder faschistischer Parteien festgenommen.

Erschienen am 13. September 2013 in der Tageszeitung junge Welt