Keine Show für die Medien

Auf den Plätzen der Städte Venezuelas kommen seit Tagen Tausende Menschen mit brennenden Kerzen zur Andacht zusammen. Die Regierung in Caracas ruft ihre Bürger zu Gebeten auf, und selbst die Armeeführung versammelt sich zu einer katholischen Messe für Hugo Chávez. Zwar ist in Venezuela Religiosität in der Bevölkerung weit verbreitet, auch wenn normalerweise kaum jemand regelmäßig in die Kirche geht, doch seitdem die erneute Erkrankung des Präsidenten bekanntgeworden ist, gibt es kein Entkommen mehr. Selbst eine junge Venezolanerin, die in Jena studiert und glühende Anhängerin des Präsidenten ist, zeigt sich entnervt: »Bete, wer beten kann. Glaube, wer glauben kann. Und denke, wer denken kann!« Sie hat einen offenen Brief an ihren Comandante initiiert, der inzwischen von zwei Dutzend in Europa aktiven Solidaritätsgruppen und rund 150 auf dem Kontinent lebenden Venezolanern unterzeichnet worden ist. »Wir haben verstanden, daß Ihre öffentlichen Auftritte für die ganze Welt von Bedeutung sind«, heißt es darin. »Damit Sie vollständig genesen können, ist es fundamental, daß Sie sich auf Ihre Erholung konzentrieren und nicht zulassen, daß das Mediengesindel die Show bekommt, die es sich wünscht und wofür es so viele Mittel überall auf der Welt einsetzt. Sie sind für die Venezolanerinnen und Venezolaner das Symbol eines neuen Lebens. Lassen Sie nun uns, von dem Ort aus, an dem wir uns befinden, an Ihrer Stelle die Stimme für den Respekt gegenüber unserem Heimatland und – in diesen Umständen – Ihnen gegenüber erheben Sie haben uns Venezuela zurückgegeben, das diejenigen okkupiert hatten, die uns historisch immer unterdrückt und ausgebeutet haben.«

Für die meisten Menschen in dem südamerikanischen Land repräsentiert Hugo Chávez die tiefgreifenden Veränderungen, die Venezuela seit seinem Amtsantritt Anfang 1999 erlebt hat. Unzählige Venezolanerinnen und Venezolaner haben unter Chávez Lesen und Schreiben gelernt oder kommen heute in den Genuß kostenfreier medizinischer Betreuung. Das Bild der Hauptstadt Caracas wird inzwischen von großen Bauprojekten geprägt, denn nicht weniger als zwei Millionen Wohnungen sollen in den kommenden Jahren entstehen, um der Mieten- und Grundstücksspekulation den Boden zu entziehen und die Knappheit zu beseitigen.

Die mehrheitliche Unterstützung für den Präsidenten und seine Bolivarische Revolution wird sich deshalb aller Voraussicht nach auch am Sonntag wieder zeigen, wenn in Venezuela die Gouverneure der Bundesstaaten gewählt werden. Alle Umfragen sagen voraus, daß die sozialistische Bewegung weiterhin die meisten Regionen kontrollieren wird. Venezuela bleibt rot.

Erschienen am 15. Dezember 2012 als Begleittext zur Fotoreportage in der Wochenendbeilage der Tageszeitung junge Welt