Kehrtwende in Caracas

Weite Teile Venezuelas sind am Dienstag nachmittag (Ortszeit) von einem Erdbeben der Stärke 6,9 auf der Richterskala erschüttert worden. Verletzt wurde offenbar niemand, und auch die materiellen Schäden hielten sich ersten Einschätzungen der Behörden zufolge in Grenzen. Die Menschen des südamerikanischen Landes zeigten nach dem ersten Schrecken, dass sie ihren Humor trotz der seit Monaten angespannten Lage nicht verloren haben. »Die Opposition will Venezuela lahmlegen – und sogar die Erde beginnt, sich zu bewegen«, hieß es in Nachrichten, die über die »sozialen« Netzwerke verschickt wurden. Regierungsgegner hatten für Dienstag zu einem Generalstreik gegen die Wirtschaftspolitik der Administration von Präsident Nicolás Maduro aufgerufen, die Beteiligung blieb jedoch marginal. Und bei einer Parlamentsdebatte in der Nationalversammlung gerieten vor laufenden Kameras auch noch die Abgeordneten der Oppositionsparteien aneinander. Währenddessen gingen Tausende Regierungsanhänger zur Unterstützung der am Montag in Kraft getretenen Reformen auf die Straße. Diosdado Cabello, der Präsident der Verfassunggebenden Versammlung, verkündete dort den Beginn der »ökonomischen Gegenoffensive« der Bolivarischen Revolution, nachdem man im vergangenen Jahr die politische Konspiration der Rechten habe zerschlagen können. Das Ziel bleibe der Aufbau des Sozialismus, verkündete er.

Zunächst jedoch muss die finanzielle und ökonomische Lage des Landes stabilisiert werden. Seit Montag sind in Venezuela neue Geldscheine im Umlauf. Der »Souveräne Bolívar« (Bs.S) löst den durch die Inflation entwerteten bisherigen »Starken Bolívar« (Bs.F) ab. 100.000 »alte« Bolívares entsprechen einem »neuen«, die bisherigen Banknoten sollen erst nach und nach aus dem Wirtschaftskreislauf verschwinden. Nicht nur durch dieses symbolische Streichen von fünf Nullen hofft die Regierung, die bislang grassierende Hyperinflation zu beenden. Das neue Geld ist an die zu Jahresbeginn eingeführte Kryptowährung »Petro« gekoppelt, und diese wiederum an den Erdölpreis. Offiziellen Angaben zufolge entsprechen demnach 3.600 Bs.S einem Petro bzw. 60 US-Dollar (52 Euro).

Eine Reihe weiterer Maßnahmen soll der Währungsspekulation die Grundlage entziehen. So dürfen seit Mittwoch Banken und andere Finanzinstitute auch von Einzelpersonen ausländische Währung ankaufen. Das legale Geldwechseln außerhalb von Flughäfen war bislang nur mit großem bürokratischem Aufwand möglich, man musste sich auf stundenlange Wartezeiten einrichten. Oder man ging einfach auf die Straße, wo an der nächsten Ecke ein Schwarzhändler anstandslos US-Dollars zu einem viel »besseren« Kurs auszahlte. Offenbar lässt sich Caracas nun von den Erfahrungen Kubas inspirieren, wo staatliche Wechselstuben den Schwarzmarkt weitgehend verschwinden ließen. Umgekehrt jedoch bleibt der Ankauf ausländischer Währung – also das Wechseln von Bolívares in Dollar oder Euro – streng reglementiert.

Als eine weitere Maßnahme sollen die Benzinpreise ab dem heutigen Donnerstag nach und nach auf das Niveau der Nachbarstaaten angehoben werden. Wurden bislang etwa 0,01 Euro für den Liter Treibstoff fällig, soll er künftig rund 1,50 Dollar kosten. So will die Regierung den massenhaften Benzinschmuggel vor allem nach Kolumbien unterbinden, durch den Venezuela nach Schätzungen mehr als 15 Milliarden Euro Schaden im Jahr entstanden. »Venezuela bleibt das Land mit dem billigsten Benzin der Welt – aber für die Venezolaner«, versprach Maduro am vergangenen Wochenende bei einer Fernsehansprache. Die bisher in die Preise fließenden Subventionen sollen künftig an die Fahrzeughalter ausgezahlt werden. Dazu werden derzeit alle Fahrzeuge registriert, die im Land unterwegs sind. Allerdings widersetzen sich viele Transport- und Verkehrsunternehmer dieser Maßnahme und sind in einen nicht erklärten Streik getreten. Andere schlossen am Dienstag eine Vereinbarung mit der Regierung, in der die künftigen Fahrpreise festgelegt wurden. Auch diese sollen am heutigen Donnerstag bekanntgegeben werden, wie Vizepräsidentin Delcy Rodríguez am Dienstag (Ortszeit) mitteilte.

Um ein »neoliberales Sparpaket«, wie am Sonntag die Schlagzeile der oppositionellen Tageszeitung La Razón lautete, handelt es sich bei den Maßnahmen der Regierung nicht – mit »Sozialismus« haben sie allerdings auch nichts zu tun, auch wenn viele Maßnahmen abgefedert werden. So wurde der Mindestlohn zum 1. September von fünf Millionen »alten« auf 1.800 »neue« Bolívares angehoben – eine Gehaltssteigerung um das 60fache. Die Mehrwertsteuer steigt zum 1. September von zwölf auf 16 Prozent, allerdings sollen Essen, Medikamente, Strom, Telefon, Trinkwasser, die Gasversorgung und andere Leistungen der Grundversorgung komplett von der Steuer ausgenommen bleiben.

Viele Bürger haben jedoch den Glauben an eine Kehrtwende verloren. Nach Angaben der Vereinten Nationen sollen bereits 2,3 Millionen Venezolaner ihr Heimatland verlassen und bei den Nachbarn Zuflucht gesucht haben. Allein in Kolumbien wurden mehr als 800.000 Menschen aufgenommen. Von diesen sind viele allerdings Rückkehrer, die lange in Venezuela gelebt hatten. Rund fünf Millionen Kolumbianer und ihre Nachkommen leben in der Bolivarischen Republik, viele von ihnen waren vor dem jahrzehntelangen Bürgerkrieg in ihrer Heimat geflohen.

Erschienen am 23. August 2018 in der Tageszeitung junge Welt