Kehrtwende der Richter

Überraschende Entwicklung in Venezuela: Der Oberste Gerichtshof (TSJ) des südamerikanischen Landes hat am Samstag zwei eigene Urteile aufgehoben, die international als Entmachtung des Parlaments interpretiert worden waren. Mit den Entscheidungen Nr. 155 und 156 hatten die obersten Richter in der vergangenen Woche die Immunität der Abgeordneten aufgehoben sowie selbst die Gesetzgebungskompetenz übernommen. Hintergrund dieses Schritts war die anhaltende Weigerung der von rechten Parteien kontrollierten Nationalversammlung, frühere Entscheidungen des TSJ zu befolgen. Dabei geht es darum, dass das Gericht die Mandate von drei rechten Abgeordneten ausgesetzt hatte, nachdem deren Wahl angefochten worden war. Das Parlamentspräsidium ignorierte diese Anordnung jedoch, woraufhin der TSJ alle Entscheidungen der Nationalversammlung für ungültig erklärte.

In internationalen Medien waren die beiden Gerichtsurteile als »Selbstputsch« der Regierung von Präsident Nicolás Maduro und als Auflösung des Parlaments interpretiert worden. Allerdings stellte sich auch Venezuelas Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz am Freitag gegen den TSJ. Die Entscheidung der Richter stehe nicht im Einklang mit der Rechtsordnung der Republik.

Als Reaktion auf diese Kritik berief Staatschef Maduro am Freitag (Ortszeit) den Verteidigungsrat ein, dem neben ihm selbst und seinem Stellvertreter Tareck El Aissami auch alle wichtigen Minister, Ombudsmann Tarek William Saab sowie TSJ-Präsident Maikel Moreno angehören. Nach langen Debatten veröffentlichte dieses Gremium in der Nacht zum Samstag einen Aufruf an den Obersten Gerichtshof, die beiden Urteile »zu überprüfen«, um den Konflikt zwischen den Staatsgewalten beizulegen. Dem folgten die Richter Stunden später.

Unklar ist, wie es nun weitergeht. Die Entscheidung des TSJ, selbst die Funktionen des Parlaments zu übernehmen, war durch einen Antrag eines staatlichen Erdölunternehmens ausgelöst worden. Dieses hatte angefragt, wie die Bestätigung eines Joint Ventures mit ausländischer Beteiligung erfolgen solle, für die nach dem Gesetz ein Parlamentsbeschluss nötig ist. Die Beschlüsse gelten jedoch durch den nicht beigelegten Konflikt zwischen Judikative und Legislative als null und nichtig. Aufklärung darüber ist vom TSJ zunächst nicht zu erwarten – seine Homepage wurde am Samstag wegen »Wartungsarbeiten« abgeschaltet.

Erschienen am 3. April 2017 in der Tageszeitung junge Welt und in der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek