Katalonien und die Unabhängigkeit: Weichenstellung

Heute abend will der katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont vor dem Regionalparlament in Barcelona zur aktuellen politischen Lage sprechen. Die Sitzung dürfte entscheidende Bedeutung dafür haben, wie sich die Auseinandersetzung zwischen der Unabhängigkeitsbewegung Kataloniens und der Zentralregierung in Madrid in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten entwickeln wird.

Das im September vom katalanischen Parlament für das Referendum am 1. Oktober verabschiedete Gesetz sieht vor, bei einer Mehrheitsentscheidung für die Eigenständigkeit innerhalb von 48 Stunden die Unabhängigkeit der Region zu verkünden. Da am Freitag die offiziellen Ergebnisse des Plebiszits veröffentlicht wurden – 90,18 Prozent der ausgezählten Stimmen für die Abspaltung von Spanien und 7,83 Prozent dagegen –, läuft diese Frist heute ab.

Der harte Kern der Bewegung fordert von Puigdemont, ohne Wenn und Aber den Bruch mit Spanien zu verkünden. Das aber könnte zu einem Eigentor werden. Es ist offensichtlich, dass Katalonien derzeit kaum über Möglichkeiten verfügt, eine Abspaltung auch tatsächlich durchzusetzen, also die Kontrolle über Grenzen, Häfen, Airports und das gesamte Territorium gegen den Widerstand der spanischen Staatsmacht zu übernehmen.

Doch auch für Madrid ist die Lage verfahren. Reagiert man, wie angedroht, auf eine einseitige Unabhängigkeitserklärung mit der Aufhebung der katalanischen Autonomie und der Auflösung der regionalen Institutionen, würde Spanien weiten Teilen der dortigen Bevölkerung nicht nur endgültig als Kolonialmacht erscheinen. Die Zentralmacht wäre künftig auch direkt für alle politischen Maßnahmen verantwortlich, die in Katalonien ergriffen würden. Proteste gegen Sozialabbau, Umweltzerstörung und anderes würden sich also nicht mehr gegen die katalanische Generalitat, sondern gegen Madrid richten – und es gäbe in diesen Punkten keine Spaltung mehr zwischen den für oder gegen eine Eigenständigkeit eintretenden politischen Kräften.

In den vergangenen Tagen wurde über eine »dritte Option« spekuliert. Puigdemont könnte heute das Wort »Unabhängigkeit« vermeiden, aber den Aufbau der Republik und den Beginn eines verfassunggebenden Prozesses proklamieren. Dafür hätte er nicht nur die Unterstützung der »separatistischen« Fraktionen, sondern auch die der föderalistischen Linken, etwa von Podemos und Kommunisten. Diese verteidigen zwar das Selbstbestimmungsrecht Kataloniens, lehnen aber eine Unabhängigkeit zumindest zum jetzigen Zeitpunkt ab. Das wäre eine spannende Konstellation, denn so würde das politische System der spanischen Monarchie grundsätzlich in Frage gestellt, und das nicht nur in Katalonien. Zweifelhaft ist aber, ob das ein bürgerlicher Politiker wie Puigdemont überhaupt will.

Erschienen am 10. Oktober 2017 in der Tageszeitung junge Welt