Katalonien hat abgestimmt: Signal mit Wenn und Aber

Mehr als zwei Millionen Katalanen haben am Sonntag ihre Meinung gesagt – und aus Madrid verlautet nur, das sei »illegal« und »ohne Bedeutung«. »9-N«, der so lange umstrittene und erwartete 9. November, hat den Konflikt zwischen der spanischen Zentralmacht und den katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen wie erwartet nicht entschärfen können. Nun ist die Zeit der Interpretationen gekommen.

 

Von rund fünf Millionen Wahlberechtigten gingen nach Angaben der Generalitat, der katalanischen Regionalregierung, 2,25 Millionen zur Abstimmung. Eine Beteiligung von rund 45 Prozent bei einem zweimal verbotenen und nicht bindenden Referendum ist beachtlich und ein großer Erfolg der Initiatoren – zumal sie in etwa der Teilnahme an früheren offiziellen Referenden entspricht. Doch wie nimmt sich diese Zahl verglichen mit den nach Polizeiangaben 1,8 Millionen Menschen aus, die am 11. September in Barcelona für die Unabhängigkeit demonstriert haben? Noch dazu haben mehr als zehn Prozent der Teilnehmenden entweder komplett »nein« zur Eigenständigkeit gesagt oder »ja – nein«: »Ja« dazu, dass sich Katalonien als Staat konstituiert, aber »nein« dazu, dass dieser Staat unabhängig werden soll. Zu einem solchen gesplitteten Votum hatte zum Beispiel das Linksbündnis ICV-EUiA aufgerufen.

1,8 Millionen am 11. September auf der Straße, eine ähnliche hohe Zahl »Ja«-Stimmen am 9. November – hat die Unabhängigkeitsbewegung ihren Höhepunkt erreicht? Gehören alle anderen der fünf Millionen Wahlberechtigten zu der von Madrid und der spanischen Rechten so oft beschworenen »schweigenden Mehrheit«? Die einzige Möglichkeit, das herauszufinden, wäre ein echtes, ordnungsgemäß durchgeführtes und von allen Seiten anerkanntes Referendum. Doch die Muskelspiele der spanischen Zentralregierung, die provokatorischen Truppenbewegungen in den Tagen vor der Volksbefragung und die – noch vereinzelten – Übergriffe neofaschistischer Gruppen auf Wahllokale am Sonntag lassen  anderes, Schlimmes befürchten.

Die Katalanen haben am Sonntag demonstriert, dass sie zu einer demokratischen Lösung bereit sind. Zudem haben sie auch ein Beispiel für Wahlen ohne Rassismus und Nationalismus gegeben: Abstimmungsberechtigt waren alle dauerhaft in Katalonien lebenden Menschen ab 16 Jahren – auch Ausländer. Wer aus einem EU-Staat stammt, musste zwei Jahre in Katalonien gelebt haben, wer aus einer anderen Region kommt, vier Jahre. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass die katalanische Unabhängigkeitsbewegung, die für ihren Internationalismus und ihre Solidarität mit progressiven Regierungen und Organisationen etwa Lateinamerikas, der Westsahara oder Palästinas, aber auch mit Arbeiterprotesten in anderen Teilen Spaniens seit Jahrzehnten bekannt ist, nicht mit reaktionären nationalistischen Strömungen in einen Topf geworfen werden sollte.

Erschienen am 11. November 2014 in der Tageszeitung junge Welt