Kampf um Magna Charta

Venezuelas Generalstaatsanwältin Luisa Ortega Díaz hat in einem Interview mit dem in New York erscheinenden Wall Street Journal Dialog und Verhandlungen zwischen der Regierung und der Opposition gefordert. Man könne nicht von den Bürgern »ein friedliches und rechtmäßiges Verhalten« verlangen, »wenn der Staat Entscheidungen trifft, die nicht dem Gesetz entsprechen«, zitierte die Zeitung aus dem Gespräch, das sie bislang nur in Auszügen publizierte. Deshalb lässt sich nur mutmaßen, worauf sich die Juristin konkret bezieht. Das Wall Street Journal spricht in diesem Zusammenhang von regierungstreuen »Gruppen bewaffneter Zivilisten«, von denen sich Ortega distanziert habe. Das Blatt erwähnt jedoch nicht, dass Venezuelas Innenminister Néstor Reverol am 2. Mai ein für 180 Tage geltendes Dekret erlassen hat, das allen Venezolanern das Tragen von Feuerwaffen verbietet.

Die Generalstaatsanwältin hat in Venezuelas Staatsaufbau eine entscheidende Funktion, da sie zusammen mit dem Rechnungshof und dem Ombudsmann die »Moralische Staatsgewalt« bildet. Deren Aufgabe ist, die Wahrung der Menschenrechte durch die anderen Säulen zu überwachen. Bereits im März hatte sich Ortega deshalb kritisch über eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (TSJ) geäußert. Dieser hatte vor dem Hintergrund eines Konflikts zwischen Legislative und Judikative Befugnisse des Parlaments übernommen. Nach der Kritik der Generalstaatsanwältin zogen die Richter ihre Entscheidung zurück.

Dem Bericht des Wall Street Journal zufolge bekräftigte die Generalstaatsanwältin, dass Venezuelas Magna Charta »nicht verbesserbar« sei, denn »das ist die Verfassung von Chávez«. Die Interviewer aus den USA interpretierten das als eine Kritik an der Ankündigung von Präsident Nicolás Maduro, eine Verfassunggebende Versammlung, die Constituyente, einzuberufen.

Die Regierung des südamerikanischen Landes hofft, durch Änderungen am geltenden Grundgesetz den Frieden in Venezuela zu sichern. Man habe auch die Vertreter der Opposition offiziell eingeladen, am kommenden Montag mit der vom Präsidenten eingesetzten Kommission zur Vorbereitung der Versammlung zusammenzukommen, informierte am Donnerstag (Ortszeit) der als Leiter eingesetzte frühere Vizepräsident Elías Jaua. Man wolle dem »Tisch der demokratischen Einheit« (MUD), dem Zusammenschluss der Regierungsgegner, die Gelegenheit geben, seine Einwände und Vorschläge zu diskutieren, so Jaua einem Bericht des staatlichen Fernsehens VTV zufolge.

Am Mittwoch hatte Maduro sein Dekret offiziell dem Nationalen Wahlrat (CNE) übergeben, in dessen Verantwortung die Durchführung der Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung liegt. Der Staatschef erläuterte, dass die Constituyente auf zwei Ebenen direkt, allgemein und geheim gewählt werden solle. Neben der gewohnten territorialen Ebene mit kommunalen Wahlkreisen soll es demnach Listen geben, die nach Gesellschaftsgruppen aufgeteilt sind: Arbeiter, Angehörige der Kommunalen Räte und Missionen, Studenten und Teilnehmer an Bildungsprogrammen, Rentner, Bauern, Indígenas, Unternehmer und Kulturschaffende. Dadurch soll erreicht werden, dass die Verfassunggebende Versammlung »keine der Parteien und Eliten« werde, so Maduro.

Inhaltlich soll die Verfassunggebende Versammlung nach Ansicht Maduros unter anderem eine »Beteiligung aller Akteure« an der Wirtschaft ermöglichen, den in Venezuela als »Missionen« bekannten Sozialprogrammen Verfassungsrang geben, die partizipative Demokratie ausweiten, Strafen für schwerwiegende Delikte verschärfen und die nationale Souveränität schützen.

Die internationalen Mainstreammedien kümmern solche Detailfragen nicht. So schrieb die Nachrichtenagentur AFP am Freitag: »Regierungsgegner laufen Sturm gegen die Ankündigung des sozialistischen Staatschefs, eine neue Verfassung ohne Beteiligung des Parlaments ausarbeiten zu lassen.« Unterschlagen wird, dass die Initiative zur Wahl einer Constituyente nach der geltenden Magna Charta unter anderem vom Präsidenten ergriffen werden kann, sich Maduro also nur an geltendes Recht gehalten hat. Er hätte allerdings keine Möglichkeit, am Ende sein Veto gegen die Änderungen einzulegen, wenn er mit den Ergebnissen der Verfassunggebenden Versammlung nicht zufrieden ist.

Trotzdem wollen die Regierungsgegner die Wahlen zur Constituyente boykottieren. Im Gespräch mit der argentinischen Tageszeitung Clarín kündigte Henrique Capriles Radonski, der bei den Präsidentschaftswahlen 2012 Hugo Chávez und nach dessen Tod 2013 Nicolás Maduro unterlegen war, seine Nichtteilnahme an. Was Maduro plane, seien Wahlen »wie in Kuba«. Er unterstellte Venezuelas Sozialisten, die Hälfte der Constituyente mit eigenem Personal besetzen zu wollen, während nur die andere Hälfte frei gewählt werde. »Er will eine Verfassung, die es ihm erlaubt, auch ohne Mehrheit im Volk an der Macht zu bleiben«, bezichtigte Capriles den Staatschef.

Fakt ist allerdings, dass Maduro regulär bis 2019 gewählt ist und Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr anstehen. Eine legale Möglichkeit, diese Abstimmung früher zu erzwingen, hat die Opposition nicht. Auch ein Amtsenthebungsreferendum hätte nur noch die Folge, dass dann der Vizepräsident die Funktion des Staatschefs bis zum regulären Wahltermin übernehmen würde. Das sieht die Verfassung für die letzten zwei Jahre einer Legislaturperiode vor – diese Frist begann im Januar.

Der Opposition geht es jedoch um den sofortigen Sturz der Regierung und des Präsidenten. Das ist der einzige gemeinsame Nenner, auf den sich das heterogene Lager der Regierungsgegner einigen kann. Politisch reicht diese Allianz von der äußersten Rechten, die offen auf einen Bürgerkrieg und eine ausländische Militärintervention setzt, über liberale und sozialdemokratische Parteien bis hin zu ehemaligen Chavistas, die sich enttäuscht vom bolivarischen Prozess abgewandt haben. Nur mit Mühe gelingt es diesen Kräften, ein Auseinanderbrechen ihrer Allianz zu verhindern. Deshalb können sich auch ihre »gemäßigten« Vertreter nicht dazu durchringen, die Gewalt eindeutig zu verurteilen. Zwar veröffentlichte die MUD am 2. Mai auf ihrer Homepage ein Kommuniqué, in dem man sich von den »Guarimbas« distanzierte, also von den gewaltsamen Straßenblockaden in Stadtvierteln. Zugleich betonte man aber: »Wir verteidigen das legitime Verteidigungsrecht derjenigen, die Barrikaden nutzen, um sich gegen die Repression zu wehren.«

Erschienen am 6. Mai 2017 in der Tageszeitung junge Welt und in der Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek