Kampagne gegen Venezuela

Die Nachrichtenagentur Reuters verblüffte am frühen Dienstag morgen mit einer Meldung: »Brasilien drängt Venezuela Kreisen zufolge zu schnellen Neuwahlen, sollte der schwer erkrankte Präsident Hugo Chávez sterben.« Das hätten Vertreter der brasilianischen Regierung in einem Gespräch mit Vizepräsident Nicolás Maduro gefordert, schreibt die Agentur unter Berufung auf »hochrangige, mit der Angelegenheit vertraute Personen«: »Wir denken, daß dies der beste Weg ist, um einen friedlichen demokratischen Übergang sicherzustellen, der Brasiliens größter Wunsch ist.«

Mit der gleichen Logik hätten diese brasilianischen Politiker, so es sie denn überhaupt gibt, auch fordern können, daß Venezuelas Hauptstadt Caracas sein soll. Ebenso wie dies in der Verfassung festgelegt ist, regelt das 1999 in einer Volksabstimmung verabschiedete Grundgesetz auch die Frage eines Todes des Staatschefs. Artikel 233 legt fest: Stirbt der Präsident »während der ersten vier Jahre der verfassunsgemäßen Amtszeit, folgen neue allgemeine, direkte und geheime Wahlen innerhalb der nächsten dreißig Tage«.

Tatsächlich dient die Reuters-Meldung vor allem der Unterstützung von Venezuelas Opposition, die der Regierung seit Tagen Verfassungsbruch vorwirft, obwohl der Oberste Gerichtshof in Caracas und sogar die Organisa­tion Amerikanischer Staaten (OAS) in Washington derartige Beschwerden verworfen haben. Trotzdem beharrt der Chef des Oppositionsbündnisses MUD, Ramón Guillermo Aveledo, darauf, daß in Venezuela eine »Verletzung der verfassungsmäßigen Ordnung« stattgefunden habe. In einem am Montag (Ortszeit) vom Fernsehsender Globovisión verbreiteten Schreiben an OAS-Generalsekretär José Miguel Insulza behauptet Aveledo, Chávez sei »seit dem 10. Januar« nicht mehr Präsident Venezuelas, weil er an diesem Tag nicht den Amtseid abgelegt habe. Diese Argumentation der Regierungsgegner beruft sich auf Artikel 231 der Verfassung, in der dieses Datum für die Amtseinführung des wiedergewählten Staatschefs vorgesehen ist. Allerdings ist an derselben Stelle auch festgelegt, daß der Eid im Verhinderungsfall auch vor dem Obersten Gerichtshof abgelegt werden kann – ohne Datumsfestlegung. Aveledo ist das offenbar selbst klar, denn im weiteren Verlauf des Briefs schreibt er weiter von »Präsident Chávez« – obwohl dieser das doch seiner Ansicht nach gar nicht mehr ist.

Globovisión seinerseits verbreitete in der vergangenen Woche wiederholt einen selbstproduzierten Spot, in dem nur der erste Teil des entsprechenden Verfassungsartikels zitiert, die Ausweichregelung jedoch unterschlagen wurde. Nun drohen dem Kanal Strafen, denn die Telekommunikationsbehörde Conatel hat ein Verfahren gegen den Sender eröffnet. Wie der Generaldirektor der Behörde, Pedro Maldonado, in einer Presseerklärung mitteilte, habe Globovisión durch die manipulierte Berichterstattung die Venezolaner aufgehetzt und versucht, die demokratische Ordnung zu destabilisieren. Dem Kanal drohen nun eine Geldstrafe in Höhe von bis zu zehn Prozent seiner im vergangenen Jahr getätigten Umsätze oder eine bis zu 72stündige Abschaltung.

Für den kommenden Mittwoch planen die Regierungsgegner eine Demonstration gegen die behauptete Verletzung der Verfassung. Der 23. Januar ist der Jahrestag des Sturzes der Militärdiktatur von Marcos Pérez Jiménez im Jahr 1958. Deshalb wollen die Anhänger von Präsident Chávez dieses Datum nicht der Opposition überlassen und rufen ihrerseits ebenfalls zu Großdemonstrationen auf. Man werde die Straßen von Caracas »aus allen vier Himmelsrichtungen besetzen«, kündigte Jorge Rodríguez als Sprecher der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) bei einer Pressekonferenz am Montag (Ortszeit) an. Die Großkundgebung zur Verteidigung der Verfassung und der Demokratie werde in dem für seine kämpferischen Traditionen bekannten Viertel 23 de Enero stattfinden, dessen Name an den Sturz des Diktators vor 55 Jahren erinnert.

Erschienen am 16. Januar 2013 in der Tageszeitung junge Welt