Justizfarce in Bogotá

Seine Freiheit dauerte nur Minuten. Jesús Santrich verließ am Freitag im Rollstuhl die Haftanstalt »La Picota« in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá – und wurde noch am Gefängnistor erneut festgenommen.

Die sofortige Entlassung des Führungsmitglieds der aus der ehemaligen Guerilla hervorgegangenen Partei »Alternative Revolutionäre Kraft des Volkes« (FARC) war bereits am Mittwoch von der »Sondergerichtsbarkeit für den Frieden« (JEP) angeordnet worden. Sie bemängelte, dass ihr keine Beweise vorgelegt worden seien, die die Inhaftierung Santrichs oder seine von der Regierung angestrebte Auslieferung an die USA rechtfertigen würden. Die JEP war 2016 in dem zwischen den Aufständischen und der kolumbianischen Regierung ausgehandelten Friedensvertrag vereinbart worden, um den jahrzehntelangen Bürgerkrieg aufzuarbeiten.

Doch Santrich musste in seiner Zelle bleiben. Kolumbiens Justiz verzögerte mehr als zwei Tage lang die Freilassung des blinden und schwerkranken Exguerilleros. So traten Generalstaatsanwalt Néstor Humberto Martínez und seine Stellvertreterin María Paulina Riveros von ihren Ämtern zurück, um den Entlassungsbefehl nicht unterschreiben zu müssen. Als dies schließlich doch geschehen war, schloss sich der Gefängnisdirektor von »La Picota« in seinem Büro ein und weigerte sich, das Papier entgegenzunehmen. Erst eine Klage von Santrichs Verteidigern vor dem Obersten Gericht von Bogotá brachte Bewegung in die Sache, denn die Richter drohten denjenigen Strafen an, die die Freilassung Santrichs verzögerten.

Am Freitag erwarteten schließlich zahlreiche Mitglieder der FARC und andere Unterstützer des Friedensprozesses den früheren Comandante vor den Gefängnistoren, kolumbianische und ausländische Fernsehsender waren mit Teams zur Stelle und übertrugen die Ereignisse live. Gegen 16.30 Uhr wurde Santrich, der sichtlich in einem schlechten Gesundheitszustand war, begleitet von einem halben Dutzend Beamten zum Gefängnistor gefahren. Schwach winkte er den Demonstranten zu, die auf ihn warteten. Doch dann stellten sich ihm Angehörige der Kriminalpolizei CTI in den Weg und nach einem kurzen Wortwechsel wurde Santrich im Rollstuhl zurück ins Gefängnis gefahren.

»Sie haben ihn wieder festgenommen!« Tatiana Portela, die für den internationalen Nachrichtensender Telesur über das Geschehen berichtete, konnte ihr Entsetzen nicht verbergen. Verzweiflung bei den Menschen, die gekommen waren, um die Freilassung ihres Genossen zu feiern. Per Hubschrauber wurde Santrich in den »Bunker« der Staatsanwaltschaft geflogen. Die Demonstranten zogen hinterher und errichteten eine Mahnwache vor dem Gebäude der Anklagebehörde. Wenig später dann erneut große Sorge: Der Gefangene sei mit dem Hubschrauber bewusstlos in ein Krankenhaus gebracht und dort in die Intensivstation eingeliefert worden. Die alternative Nachrichtenagentur Agencia Prensa Rural meldete, er habe einen Herz-Kreislauf-Stillstand erlitten. Später teilte das Méderi-Krankenhaus mit, der Zustand des Patienten sei »stabil«. Ein Antrag seiner Verteidiger, die erneute Verhaftung für illegal zu erklären, wurde vom Haftrichter am frühen Sonntag morgen abgewiesen.

Seuxis Paucias Hernández Solarte wurde 1967 in Toluviejo geboren und erlebte als Student die Verfolgung der Mitglieder der Linkspartei »Unión Patriótica«, die zu Tausenden ermordet wurden. Als im November 1990 ein guter Freund der Mordkampagne zum Opfer fiel, nahm Seuxis Hernández dessen Namen an und schloss sich als Jesús Santrich den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens – Armee des Volkes (FARC-EP) an. Er wurde Mitglied des Zentralen Befehlsstabes der Guerilla und war verantwortlich für die Radiosender der Aufständischen. Ab 2012 gehörte er als führendes Mitglied der FARC-Delegation bei den Friedensgesprächen mit der kolumbianischen Regierung in Havanna an. Er gilt als eine Schlüsselfigur bei der Ausformulierung des Vertragstextes. Nach Unterzeichnung des Abkommens Ende 2016 wurde er im September 2017 in die Führung der als Partei neugegründeten FARC gewählt. Da ihr im Friedensvertrag auch eine parlamentarische Präsenz garantiert worden war, sollte Santrich nach den Wahlen im März 2018 Abgeordneter werden. Doch kurz vor Zusammentreten des neuen Kongresses wurde er im April 2018 aufgrund eines US-Haftbefehls in seinem Haus in Bogotá festgenommen. Generalstaatsanwalt Martínez behauptete, es gebe »reichliche Beweise«, dass Santrich zusammen mit mexikanischen Drogenkartellen versucht habe, zehn Tonnen Kokain in die USA zu schmuggeln.

Santrich weist die Vorwürfe zurück – und auch die Juristen der JEP haben die »reichlichen Beweise« nie zu Gesicht bekommen. Deshalb zogen sie in der vergangenen Woche die Notbremse – doch das Regime in Bogotá greift zu immer neuen Tricks, um Santrich trotzdem an die USA ausliefern zu können. Die FARC rief daraufhin ihre früheren Comandantes zu einer Sondersitzung zusammen, um das weitere Vorgehen zu beraten. In einem am Samstag abend (Ortszeit) verbreiteten Kommuniqué wurden die Mitglieder aufgerufen, vereint zu bleiben und für die Erfüllung des Friedensabkommens zu kämpfen: »Erlauben wir nicht, dass die Hoffnung eines Landes auf Frieden zum Schweigen gebracht wird«.

Erschienen am 20. Mai 2019 in der Tageszeitung junge Welt