Jahresrückblick 2013: Aggression mit anderen Mitteln

Bleibt Lateinamerika auf dem Weg fortschrittlicher Veränderungen, oder gelingt es der Rechten des Kontinents, die in den vergangenen Jahren erreichten Erfolge zunichte zu machen? »Wir erleben heute nicht nur eine Zeit erschreckender imperialistischer Aggressivität, sondern auch eine Zeit großer Möglichkeiten für die Volkskämpfe, einschließlich der Chance, unseren Sieg über die Kräfte des Imperialismus zu erringen«, heißt es dazu in der Abschlußerklärung der 18. Weltfestspiele der Jugend und Studenten, die im Dezember in Ecuadors Hauptstadt Quito stattfanden. Zugleich warnten die Teilnehmer in ihrem Dokument: »Der Imperialismus setzt seine Aggression mit neuen Mitteln, neuen Methoden sowie mit den traditionellen Mitteln der Kriege, Besatzungen und Militärinterventionen fort.

 

In Lateinamerika scheint die Zeit der bewaffneten Auseinandersetzungen der Vergangenheit anzugehören. Um den letzten offenen Krieg zu beenden, verhandeln in Havanna die kolumbianische Regierung und die FARC-Guerilla über einen Friedensschluß, der soziale Gerechtigkeit und demokratische Rechte für die Opposition garantieren soll. Doch zugleich zieht die Regierung die Zügel straffer an: Am 9. Dezember wurde der linke Bürgermeister von Bogotá, Gustavo Petro, durch die Procuraduría General Kolumbiens seines Amtes enthoben und mit einem 15jährigen Funktionsverbot belegt. Die Procuraduría ist ein Kontrollorgan, das Gesetzesverstöße von Regierenden ahnden soll. In diesem Fall nutzte Generalprokurator Alejandro Ordóñez auf Probleme bei der Abfallentsorgung in der Millionenmetropole. Im Dezember 2012 war eine Woche lang der Müll in Bogotás Straßen liegengeblieben. Die Zentralregierung macht Petro dafür verantwortlich, weil dieser die entsprechenden Verträge mit privaten Unternehmen nicht verlängert und die Entsorgung rekommunalisiert hatte. Tatsächlich scheint es sich damals jedoch um ein Komplott der entmachteten Unternehmen gehandelt zu haben, die durch Sabotage die Abfallbeseitigung zusammenbrechen lassen und Petro stürzen wollten. Das jedenfalls berichtete Emilio Tapia, ein Kronzeuge der kolumbianischen Staatsanwaltschaft in den Ermittlungen gegen mafiöse Strukturen in Bogotá, am 10. Dezember im Gespräch mit der Zeitung El ­Espectador. Petro und dessen »Progressive Bewegung« sehen sich deshalb bestätigt, daß die Absetzung ein »Putsch« gewesen sei und haben internationale Gerichte angerufen. In der Hauptstadt selbst halten seit dem Sturz des Politikers die Proteste seiner Anhänger an.

Andere Länder sind derweil zu zumindest formell demokratischen Verhältnissen zurückgekehrt. In Paraguay wurde Horacio Cartes im April zum neuen Präsidenten gewählt. Er löste Federico Franco ab, der das südamerikanische Land seit dem Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Fernando Lugo 2012 regiert hatte. Die anderen Staaten Lateinamerikas hatten die Absetzung Lugos als Staatsstreich bewertet und Paraguay aus Regionalorganisationen wie der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) ausgeschlossen. Die Amtseinführung von Cartes im August wurde zum Anlaß genommen, diese Krise für beendet zu erklären und Paraguay wieder in die Reihen der »demokratischen« Länder aufzunehmen – obwohl die Zweifel an Cartes groß sind. Gegen den Großgrundbesitzer, einstigen Fußballfunktionär und Inhaber von Banken, Tabak- und Getränkeunternehmen hatte zwischenzeitlich sogar die US-Drogenfahndung DEA wegen des Verdachts auf Geldwäsche und Verwicklung in den Rauschiftschmuggel ermittelt.

Kurswechsel in Chile

Weniger störungsfrei verlief im November die Präsidentschaftswahl in Honduras. Den offiziellen Angaben zufolge setzte sich dabei Juan Hernández von der Nationalen Partei gegen die Kandidatin des Linksbündnisses LIBRE, Xiomara Castro, durch. Die Ehefrau des 2009 durch einen Putsch gestürzten Präsidenten Manuel Zelaya erkannte ihre Niederlage nicht an und verwies auf zahlreiche Unregelmäßigkeiten während der Abstimmung. Nach Protesten akzeptierte das Wahlgericht zwar eine Überprüfung der Wahlprotokolle, lehnte jedoch eine Neuauszählung der Stimmzettel in den Urnen ab. Mitte Dezember wurde Hernández offiziell zum künftigen Staatschef erklärte, während die LIBRE dessen Amtsantritt noch mit einer Klage vor dem Obersten Gerichtshof verhindern will.

Einen Richtungswechsel gibt es hingegen in Chile. Am 15. Dezember wurde Michelle Bachelet in der zweiten Runde zur neuen Präsidentin des Landes gewählt. Die Politikerin der Sozialistischen Partei, die Chile schon 2006 bis 2010 regiert hatte, war von einem Bündnis unterstützt worden, das von den Kommunisten bis zur Christdemokratie reichte. In einer Rede vor jubelnden Anhängern machte sie die Grundzüge der Politik deutlich, die sie ab ihrem Amtsantritt im März umsetzen will: »Bildung ist keine Ware! Die Träume der Menschen sind kein Handelsgut, sondern ein Recht aller! Es haben die gesiegt, die im Namen der Vielfalt, im Namen der Toleranz für eine öffentliche Gesundheitsversorgung und für die Verteidigung der Rechte der indigenen Völker auf die Straße gegangen sind.«

Proteste in Brasilien

Ins Schlingern gerieten im vergangenen Jahr hingegen zwei Präsidentinnen, die meist als »gemäßigte Linke« tituliert werden. In Brasilien sah sich Dilma Rousseff großen Protesten gegenüber, die sich an Fahrpreissteigerungen und den Milliardenausgaben für die 2014 anstehende Fußballweltmeisterschaft entzündet hatten. Während viele der Demonstranten die zur Arbeiterpartei (PT) gehörende Staatschefin von links kritisierten, sah auch die Rechte ihre Chance zur Schwächung der Regierung. Rousseff gelang es jedoch, zahlreiche Protestierende zu »umarmen«, indem sie Verständnis für deren Forderungen zeigte und sich diese teilweise sogar zu eigen machte. So konnte sie in ihrer Neujahrsansprache am 31. Dezember erklären, daß Brasilien »eines der wenigen Länder der Welt« sei, in dem die wirtschaftliche Lage am Ende des Jahres besser sei als an seinem Anfang.

Gesundheitlich geschwächt sah sich Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández einer erstarkenden Opposition gegenüber. Im Oktober hatte sich die Linksperonistin wegen einer Hirnblutung operieren lassen müssen und konnte erst Mitte November die Amtsgeschäfte wieder aufnehmen. Im Dezember wurde sie dann durch Proteste herausgefordert, die durch Stromausfälle ausgelöst wurden. Nach einer Hitze­welle war in zahlreichen Städten die durch unzählige Klimaanlagen überlastete Energieversorgung zusammengebrochen. Die Regierung machte die Privatunternehmen Edesur und Edenor für die Probleme verantwortlich und drohte mit ihrer Verstaatlichung.

Ecuadors Präsident Rafael Correa, der die Weltfestspiele am 7. Dezember mit einem Aufruf zum Kampf um den Sozialismus eröffnet hatte, konnte sich in dieser Situation und nach dem Tod des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez am 5. März als neue Führungspersönlichkeit der lateinamerikanischen Linken profilieren. Zur Mobilisierung diente ihm dabei der Kampf um Entschädigungszahlungen des US-Ölkonzerns Chevron für die im Amazonas-Regenwald angerichteten Umweltzerstörungen. Im November verurteilte das ecuadorianische Verfassungsgericht Chevron zu einer Strafe von umgerechnet mehr als sieben Milliarden Euro und bestätigte die bereits 2011 und 2012 juristisch festgestellte Schuld des Konzerns.

Im August hatte Correa das schon länger absehbare Scheitern seiner Initiative zum Schutz des Yasuni-Nationalparks eingeräumt. 2007 hatte er vor der UN-Vollversammlung vorgeschlagen, auf die Förderung von Erdöl in einem als »ITT« bekannten Bereich des Naturschutzgebietes zu verzichten, wenn die internationale Gemeinschaft Ecuador die Hälfte der dadurch entgehenden Einnahmen erstatte. Das Echo blieb gering. So setzte sich Bundesentwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) über einen Bundestagsbeschluß hinweg und verweigerte einen deutschen Beitrag. Im Oktober bewilligte das Parlament in Quito dann Erdölbohrungen in dem Gebiet, die Medienberichten zufolge in etwa fünf Jahren beginnen sollen.

Erschienen am 2. Januar 2014 in der Tageszeitung junge Welt