Jagd auf Journalisten

Tripolis versinkt im Chaos. Die Kämpfe um die libysche Hauptstadt halten an, und eine klare Übersicht über die Lage fehlt. Die Gefangenenhilfsorganisation Amnesty International warnte am Freitag vor schweren Menschenrechtsverletzungen durch die verschiedenen Konfliktparteien. Die Truppen des langjährigen Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi wurden von der in London ansässigen Menschenrechtsorganisation unter anderem beschuldigt, gefangengenommene Jungen im Gefängnis Abu Slim in Tripolis vergewaltigt zu haben. Insgesamt seien während des Konflikts Tausende Männer nach ihrer Festnahme durch die Regierungstruppen »verschwunden«. Auch den Rebellen warf Amnesty International vor, Gefangene unter unmenschlichen Bedingungen festzuhalten und zu mißhandeln. So würden 125 Menschen in einer einzigen Zelle eingesperrt. Opfer von Übergriffen würden auch zahlreiche Immigranten aus dem südlichen Afrika, die beschuldigt würden, Söldner Ghaddafis zu sein. Tatsächlich handelte es sich bei ihnen jedoch um Arbeiter, die lediglich aufgrund ihrer Hautfarbe in das Visier der Rebellen geraten und von diesen mit ihrer »Beseitigung« oder Hinrichtung bedroht worden seien.

Vor diesem Hintergrund wächst die Sorge um ein halbes Dutzend unabhängiger Journalisten, die in den vergangenen Wochen alternative Nachrichten aus Libyen verbreiteten. Der Internetdienst Red Voltaire berichtete, Aufständische hätten während der Evakuierung der im Hotel Rixos in Tripolis festsitzenden Journalisten am Mittwoch versucht, den französischen Journalisten Thierry Meyssan zu verhaften. Das sei jedoch von Vertretern des Roten Kreuzes verhindert worden. Die Reporter seien von den Helfern dann in das Hotel Corinthia gebracht worden, das in dem von den Rebellen kontrollierten Teil der libyschen Hauptstadt liegt. Dort stünden sie nun nicht mehr unter dem Schutz der internationalen Hilfsorganisation, warnte Red Voltaire. Neben Meyssan befinden sich dem Portal zufolge auch seine Mitarbeiter Mahdi Darius Nazemroaya, Mathieu Ozanon und Julien Teil unter den Pressevertretern,

Seit mehreren Tagen fehlt zudem jede Spur von Lizzie Phelan, die als Korrespondentin für den russischen Nachrichtensender Russia Today und das iranische Press TV arbeitete. Ihr Internetblog ist abgeschaltet, ihr Konto beim Kurznachrichtendienst Twitter und ihre Seite bei Facebook sind gelöscht worden. Ob sie dies selbst veranlaßt hat, oder ob die Abschaltung auf eine Intervention durch die Rebellen oder die NATO zurückzuführen ist, war unklar. Am Freitag war ihre Seite unter der neuen Adresse lizziesliberation.dk wieder erreichbar. Phelan soll zu den 36 am Mittwoch in Tripolis befreiten Journalisten gehört haben. Am Freitag kursierten Gerüchte, sie befände sich auf einem der zwei von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) gecharterten Schiffe, mit denen am Donnerstag und Freitag insgesamt knapp 500 Menschen aus der Hauptstadt evakuiert wurden. Eine Bestätigung dafür gab es nicht.

Die NATO und der »Nationale Übergangsrat« in Bengasi hatten den staatlichen Medien Libyens in den vergangenen Monaten wiederholt vorgeworfen, durch ihre Berichterstattung über die Aggression und die zahlreichen Opfer eine »Gefahr für die Zivilbevölkerung« darzustellen. Das westliche Militärbündnis begründete so auch die Bombardierung des libyschen Fernsehens Ende Juli. Befürchtet wird jetzt, daß die Rebellen die betroffenen Journalisten zu einer ebensolchen »Bedrohung« erklären könnten, weil sie sich der von den meisten internationalen Medien verbreiteten Darstellung der Ereignisse verweigert hatten. Sie berichteten seit Beginn des NATO-Angriffskrieges gegen das nordafrikanische Land regelmäßig auch über die zivilen Opfer, die die bis heute anhaltenden Bombenangriffe forderten.

Der französische Reporter Meyssan hatte etwa über die Unterstützung der Aufständischen durch Spezialeinheiten der britischen und französischen Armee berichtet, was mittlerweile von London bestätigt wurde. Auch noch nach dem Sturm auf Tripolis, als fast alle europäischen und nordamerikanischen Medien bereits den Sieg über Ghaddafi meldeten, widersprachen die Reporter den Jubelberichten und informierten über anhaltenden Widerstand der Regierungstruppen.

Weiter aus Tripolis berichten kann hingegen der Korrespondent des lateinamerikanischen Nachrichtensenders TeleSur, Rolando Segura. Am Freitag informierte er aus der libyschen Hauptstadt über die anhaltenden Gefechte zwischen Aufständischen und Regierungstruppen. Die Einwohner von Tripolis hätten sich weiterhin in ihren Häusern verbarrikadiert, die Geschäfte blieben geschlossen, meldete der TeleSur-Korrespondent.

Erschienen am 27. August 2011 in der Tageszeitung junge Welt