Interview mit André Scheer

1998 wählte die Bevölkerung Venezuelas den Sozialisten Hugo Chávez zum Präsidenten. Cédric Wermuth führte mit André Scheer, Koordinator des Netzwerk Venezuela Deutschland ein Interview.

Cédric Wermuth: Seit 1998 Hugo Chávez überraschend zum Präsidenten Venezuelas gewählt wurde ist enorm viel passiert. Was sind die Eckpunkte der bolivarischen Revolution?

André Scheer: Entscheidendes Ziel des bolivarischen Prozesses ist, die Ausgrenzung der großen Mehrheit der Bevölkerung zu beenden und dadurch den Weg zu einer sozialeren, besseren Zukunft für alle Menschen frei zu machen. Dazu gehört eine Vielzahl von Maßnahmen. Zunächst die Einführung weit reichender basisdemokratischer Elemente in das politische Leben, die in der Verfassung festgelegte partizipative Demokratie. Außerdem umfangreiche Maßnahmen zur Verbreitung der Bildung in der Bevölkerung. In diesem Zusammenhang ist die praktische Überwindung des Analphabetismus im Rahmen der „Mission Robinson“ hervorzuheben: bis Ende diesen Jahres werden über 1,5 Millionen Menschen Lesen und Schreiben gelernt haben, die Analphabetenrate ist damit auf unter zwei Prozent gesunken. Ähnlich verhält es sich mit dem Zugang der Bevölkerung zur medizinischen Versorgung. Die Mission „Barrio Adentro“ hat mir kubanischer Hilfe erreicht, dass Hunderttausende von Menschen zum ersten Mal Zugang zu ärztlicher Betreuung haben. Und schließlich im wirtschaftlichen Bereich eine Wirtschaftspolitik, die Privatisierungen ausschließt, ein großes Gewicht auf die Rückgewinnung eines staatlichen Sektors in der Wirtschaft legt (zum Beispiel durch den Aufbau einer neuen staatlichen Fluggesellschaft, Conviasa) und auch vor Enteignungen nicht zurückschreckt. Schließlich nicht zu vergessen eine Bodenreform, in deren Rahmen Hunderttausende landloser Bauern endlich Land bekommen. Dazu gehört auch die Förderung von Kooperativen, sowohl in der Landwirtschaft als auch in anderen Bereichen.

CW: 2002 misslang ein Putschversuch inkl. „Streik“ der Opposition kläglich. Was ist damals passiert und wer ist daran schuld?

AS: 2002 gab es genau genommen zwei Putschversuche. Am 11. April 2002 wurde eine Oppositionsdemo zum Präsidentenpalast gelenkt, wo sich Tausende von Menschen versammelt hatten, um ihre Solidarität mit Präsident Chávez zu demonstrieren. Heckenschützen feuerten auf beide Versammlungen. Dies diente dem Oberkommando der Streitkräfte als Vorwand, Chávez die Gefolgschaft aufzukündigen. Chávez wurde verschleppt, es wurde die Falschinformation in die Welt gesetzt, er sei zurückgetreten. Der Chef des Unternehmerverbandes Fedecámaras, Pedro Carmona, wurde als „Übergangspräsident“ eingesetzt und nutzte seine Macht als erstes dazu, die Verfassung außer Kraft zu setzen und die gewählten Abgeordneten, die Richter des Obersten Gerichtshofes und viele andere abzusetzen.
Gegen diesen sofort von den USA und der Europäischen Union akzeptierten Putsch gingen Hunderttausende von Menschen auf die Straße. Auch der größte Teil der Streitkräfte stellte sich hinter die Demokratie, so dass der Putsch innerhalb von 48 Stunden zusammenbrach und Chávez zurückkehrte.
Gelernt hat die reaktionäre Opposition daraus nicht, ab dem 2. Dezember 2002 versuchte sie durch einen illegalen sog. „Generalstreik“ – der eigentlich eine Massenaussperrung war -, Chávez wirtschaftlich zu erdrosseln und damit zum Rücktritt zu zwingen. Auch dieser, in Venezuela als „Erdöl-Putsch“ bezeichnete Coup misslang durch den aktiven Einsatz der Arbeiterklasse und der ganzen Bevölkerung.

CW: Der Putsch hat der Beliebtheit Chávez’ keinen Abbruch getan, im Gegenteil. Neuste verlässliche Umfragewerte sprechen von sagenhaften 80% Zustimmung zu seiner Politik. Was macht das „anders sein“ dieser Politik für die Bevölkerung aus?

AS: Chávez belässt es nicht bei schönen Reden, wie wir sie hier ja auch kennen, sondern die von seiner Regierung ergriffenen Maßnahmen sind für alle Menschen sichtbar. Vor zwei Jahren sagte mir einmal eine Frau in einem Armenviertel: „Ich behaupte nicht, dass Chávez nicht stiehlt. Das haben alle gemacht. Aber jetzt habe ich Lesen und Schreiben gelernt und ich kann zum Arzt gehen. Die früheren Regierungen haben uns nichts gegeben. Und deshalb sollen die von Früher jetzt ganz ruhig sein.“ Diese Haltung einer ganz einfachen Frau hat mich sehr beeindruckt.

Mehr Infos unter www.netzwerk-venezuela.de

RESUME

Pour André Scheer, la révolution bolivienne avait pour but de mettre fin à l’exclusion de la majeure partie de la population. Cet objectif ne peut être atteint que par une démocratie participative et une meilleure formation pour la population. Jusqu’à la fin de cette année, 1,5 millions de personnes auront appris à lire et à écrire. Le taux d’analphabètes sera ainsi descendu de 2%. Grâce au soutien de Cuba, des centaines de milliers d’hommes auront enfin accès à un système de santé. Enfin, une offensive socialisatrice permet aux sans-terre d’obtenir les terres tant attendues. Mais Chavez revient de loin et a surmonté deux tentatives de putsch en 2002. C’est la mobilisation populaire qui permit à Chavez de reprendre le pouvoir à peine 48h après l’avoir abandonné… Au pouvoir, Chavez ne peut pas être « idéal ». Sa politique toutefois est largement approuvée.

Link: http://www.juso.ch/index.php?page=infrarot&id=278

Erschienen in „Infrarot“, Zeitung der JungsozialistInnen Schweiz, 15. September 2005