Historisches Treffen

In der 31000 Einwohner zählenden Kleinstadt Otavalo im Norden Ecuadors beginnt am heutigen Donnerstag ein weiteres Gipfeltreffen der Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA). Zwar hatten auch frühere Konferenzen der momentan acht Mitgliedsstaaten wenig mit den von Tausenden Polizisten beschützten Zusammenkünften von Spitzenpolitikern etwa der G20 oder der EU gemein. Aber diesmal sind ausdrücklich rund 300 Vertreter der indigenen und afroamerikanischen Gemeinden eingeladen, mit den Staatschefs über ihre Probleme und Forderungen zu diskutieren. Wie Ecuadors Ministerin für Völker, soziale Bewegungen und Bürgerbeteiligung, Alexandra Ocles, erläutert, soll aus den Beratungen eine Kommission der von ihren Gemeinden gewählten Vertreter der Indígenas aus den ALBA-Staaten entstehen. An deren Wünschen und Vorstellungen können sich die nationalen Regierungen in ihrer Ethnienpolitik »wie an einem Wegweiser« orientieren, erklärte Ocles gegenüber der kubanischen Agentur Prensa Latina.

Venezuelas Ministerin für die indigenen Völker, Nicia Maldonado, hob hervor, daß bei dem Treffen die Vertreter der »über Jahrhunderte marginalisierten« Völker gleichberechtigt mit den Regierungschefs der antiimperialistischen Staatengemeinschaft beraten können, darunter »lebenswichtige Themen wie die Interkulturalität der öffentlichen Verwaltung«. So sei Venezuela ein multiethnisches Land, in dem rund 40 eingeborene Völker leben. »Es mußten fünf Jahrhunderte vergehen, bis unsere historisch ausgegrenzten Völker nun mit den lateinamerikanischen und karibischen Präsidenten über ihre Sorgen und Ideen für eine Entwicklung in Harmonie mit der Natur sprechen können«, unterstrich die Ministerin.

Mit dem Gipfeltreffen versuchen die linken Regierungen der Region, die ­Initiative zurückzugewinnen. Mit der 1999 verabschiedeten neuen Verfassung Venezuelas und später den Grundgesetzen Boliviens und Ecuadors wurden den indigenen Völker Lateinamerikas erstmals in den wichtigsten Gesetzen ihrer Länder Rechte eingeräumt, die ihnen über Jahrhunderte verweigert wurden. Doch aus der ersten Freude über diese historische Anerkennung ist längst die Forderung nach einer konkreten Umsetzung geworden. So garantiert die venezolanische Verfassung den Indígenas Autonomierechte in den von ihnen bewohnten Gebieten, aber auch mehr als ein Jahrzehnt nach Inkrafttreten der Magna Charta ist in vielen Fällen noch immer unklar, wo deren Grenzen sind. Das führt gerade bei Infrastrukturprojekten immer wieder zu Konflikten, weil die indigenen Gemeinden ihre Rechte verletzt sehen.

Zuletzt besonders heftig prallten die Interessen in Ecuador aufeinander. Ursprünglich war das ALBA-Treffen bereits für Anfang Juni geplant gewesen, wurde aber offiziell aus »Terminschwierigkeiten« verschoben, nachdem es in den Tagen zuvor zu Protestaktionen der Indígenaorganisation ­CONAIE gegen ein von der Regierung angestrebtes Wassergesetz gekommen war. Doch auch die heutige Konferenz stößt bei Teilen der ecuadorianischen Indígenas auf Ablehnung. Bei einem eigenen »Plurinationalen Parlament« wollen sie die Regierung in Quito kritisieren, die ihrer Ansicht nach versucht, die Bewegung zu spalten. Die Indígena-Partei Pachakutik hat sich hingegen zu einer Teilnahme am ALBA-Gipfel entschlossen. Ihre Parlamentsabgeordnete Lourdes Tibán kündigte jedoch an, »keine Spielfigur« sein zu wollen: »Unsere Partei nimmt teil, um die reale Situation darzustellen, die das Land erlebt.«

Erschienen am 24. Juni 2010 in der Tageszeitung junge Welt