Halbzeit für Chávez – Opposition am Ende?

Hunderttausende von Menschen – offizielle Stellen sprachen von zwei Millionen – demonstrierten am vergangenen Sonnabend im Zentrum der venezolanischen Hauptstadt Caracas ihre Solidarität mit dem Präsidenten Hugo Chávez und der Bolivarianischen Revolution. Anlaß war der dritte Jahrestag des erneuten Regierungsantritts von Chávez nach den Neuwahlen im Jahr 2000, als nach der Annahme der neuen bolivarianischen Verfassung in „Mega-Wahlen“ alle Staatsorgane des Landes neu gewählt worden waren. Mit dem dritten Jahrestag hatte Chávez die Hälfte seiner Amtszeit erreicht, ein wichtiger Zeitpunkt, denn ab diesem Moment erlaubt die Verfassung die Durchführung einer Volksabstimmung über die Absetzung des Präsidenten.

Wäre es nach der rechten Opposition gegangen, hätte Chávez diesen Jahrestag nie feiern sollen. Durch mehrere sogenannte „Generalstreiks“, einen Putsch im April 2002, Mordanschläge und andere Aktionen versuchten die Rechten, den Präsidenten schon lange zuvor loszuwerden. Erst nach dem Zusammenbruch ihrer „Generalstreik“ genannten zwei Monate langen Aussperrungs- und Sabotagekampagne im Dezember 2002 und Januar 2003 mußte die Opposition in einem Abkommen mit der Regierung die verfassungsmäßige Lösung eines Referendums nach Ablauf der Hälfte der Amtszeit akzeptieren.

Doch die Opposition hat offensichtlich kein Interesse an der ordnungsgemäßen Durchführung einer solchen Abstimmung. Sie versteckt sich hinter der Forderung nach Neuwahlen und tut gleichzeitig alles, um diese zu verhindern. Seit Wochen verhindert das Oppositionslager in der Nationalversammlung die Bildung des Nationalen Wahlrates (CNE), der mit Zwei-Drittel-Mehrheit gewählt werden muß. Die bisherige Zusammensetzung der Behörde war Anfang des Jahres vom Obersten Gerichtshof annulliert worden, so daß es derzeit keine funktionierende Wahlbehörde und damit auch keine Möglichkeit der Durchführung von Wahlen und Abstimmungen gibt.

Das hindert die Opposition aber nicht daran, ein Spektakel zu veranstalten. An dem Tag, als die Hälfte der Amtszeit des Präsidenten ablief, demonstrierte ein Zug von Oppositionellen zum Sitz der CNE und übergab den dort ausharrenden Beamten Kisten mit angeblich mehr als drei Millionen Unterschriften und beantragte die Durchführung des Referendums zur Amtsenthebung des Präsidenten. Dabei ist völlig unklar, wann und wo diese Unterschriften gesammelt worden sein sollen, zumal es keine amtlichen Formulare für die Unterschriften gibt und das Sammeln der Unterschriften für das Referendum ebenfalls erst nach dem Stichtag Hälfte der Amtszeit zugelassen ist. Vermutlich handelt es sich bei den Papierbergen um Unterschriften, die im vergangenen Februar an mehreren Tagen gesammelt wurden, um vom Scheitern der Opposition nach dem „Generalstreik“ abzulenken. Dabei hatten die Oppositionsgruppen allerdings Unterschriften unter ganz verschiedenen Forderungen gesammelt, neben der nach der Durchführung eines Referendums auch für Neuwahlen oder eine Verfassungsänderung. Außerdem gibt es berechtigte Zweifel an der Aussagekraft dieser Unterschriften, da bei ersten Kontrollen Anhänger der Regierung ihre angeblichen Unterschriften auf den Listen entdeckten und offenbar einige Banken sogar ihre kompletten Kundenlisten als Unterschriften unter die Formulare kopierten.

Das Ziel der Opposition ist deutlich. Es soll die Nichtanerkennung der Unterschriften provoziert werden, wodurch kein Referendum zustande kommen würde. Daraufhin könnte die Opposition lauthals den „Diktator“ Chávez anklagen, den demokratischen Volkswillen zu ignorieren. Und die internationalen Medien würden diese Parolen wiederkäuen, womit eine Reihe US-amerikanischer und europäischer Zeitungen bereits begonnen hat.

Die revolutionäre Bewegung Venezuelas vermutet, daß die Opposition auf diesem Wege vor allem einer drohenden Niederlage ausweichen will. Selbst wenn es der Opposition gelingen sollte, eine Mehrheit für eine Amtsenthebung des Präsidenten zu erreichen – wozu sie mehr Stimmen bräuchte, als Chávez bei den letzten Wahlen erzielte, also über 3,5 Millionen –, müßte es ihr dann erst gelingen, in Neuwahlen eine Mehrheit für einen Oppositionsvertreter zu erreichen. Während sich die gesamte revolutionäre Bewegung um Hugo Chávez schart, scheint die Opposition unfähig, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen, bis zu fünf Oppositionelle haben ihre Präsidentschaftskandidatur bereits angekündigt.

Und die Regierung von Präsident Chávez kann durchaus auf Erfolge verweisen. Durch den Einsatz kubanischer Ärzte in den ärmsten Vierteln der Hauptstadt Caracas im Rahmen des Programms „Barrio adentro“ wurde die Gesundheitsversorgung der breiten Bevölkerung verbessert. Und durch die große Alphabetisierungskampagne „Mission Robinson“, die ebenfalls mit kubanischer Unterstützung durchgeführt wird, haben bereits Hunderttausende Lesen und Schreiben gelernt. So überrascht es nicht, daß die Großdemonstration am vergangenen Sonnabend wie auch die Aktionen in den Tagen zuvor an Teilnehmern die Demonstrationen der Opposition bei weitem überflügelten.

Erschienen in der Wochenzeitung UZ – Unsere Zeit vom 29. August 2003