Gesetz des Urwalds

Was sich derzeit in Washington abspielt, könnte zu einem gefährlichen Präzedenzfall werden. Schon das Aufbrechen der Schlösser der venezolanischen Botschaft am Montag abend (Ortszeit) und das Eindringen uniformierter Polizisten in das Gebäude war eine Verletzung der Wiener Konvention über diplomatische Vertretungen. Dieses international gültige Abkommen legt fest, dass ausländische Botschaften und Konsulate für die Sicherheitskräfte tabu sind. Das gilt auch, wenn die Gebäude wegen des Abbruchs diplomatischer Beziehungen leerstehen.

Die US-Administration interpretiert das Völkerrecht auf ihre Weise. Sie hat den Putschisten Juan Guaidó, der über keinerlei demokratische Legitimation verfügt, als »Präsidenten Venezuelas« anerkannt und in der Folge auch dessen Abgesandten Carlos Vecchio als »Botschafter« akzeptiert. Auf dieser Grundlage behauptet das State Department nun, dass er die Botschaft und Konsulate Venezuelas übernehmen dürfe. Im venezolanischen Generalkonsulat in New York und in zwei Gebäuden des zu den Putschisten übergelaufenen Militärattachés in Washington haben sich die Guaidó-Anhänger schon breitgemacht. In Washington verhindern das bislang Friedensaktivisten, die sich mit Zustimmung der rechtmäßigen Regierung Venezuelas in dem Gebäude aufhalten.

Nun scheint ein Polizeieinsatz gegen die »Botschaftsverteidiger« bevorzustehen, nachdem schon die Strom- und Trinkwasserversorgung der diplomatischen Vertretung unterbrochen wurde (was ebenfalls eine Verletzung internationaler Abkommen bedeutet). Sollten die US-Einsatzkräfte tatsächlich die diplomatische Immunität der Botschaft Venezuelas verletzen und das Gebäude räumen, würde dies letztlich bedeuten, dass künftig kein Land der Erde mehr sicher sein kann, dass die USA die Sicherheit ihrer Vertretung in Washington garantieren. Und umgekehrt könnte das State Department nicht mehr auf die Unantastbarkeit seiner Botschaften weltweit pochen. Das Völkerrecht würde noch mehr durch das Gesetz des Dschungels, das Recht des Stärkeren ersetzt.

Ausgangspunkt der aktuellen Eskalation ist jedoch die willkürliche Anerkennung eines Oppositionspolitikers als Staatsoberhaupt, ohne dass dieser in dieses Amt gewählt worden wäre. Aus dieser Entscheidung ergibt sich die Logik des Vorgehens der US-Administration. Das sollte auch ein klares Warnsignal für uns hierzulande sein, denn immerhin hat die deutsche Bundesregierung den Herrn Guaidó ebenfalls als »Staatschef« akzeptiert, und bei der für den 28. und 29. Mai in Berlin geplanten Lateinamerika-Konferenz des Auswärtigen Amtes ist Venezuela unerwünscht. Dagegen braucht es klare Kante, auch hierzulande.

Erschienen am 15. Mai 2019 in der Tageszeitung junge Welt