Geburtstermin verschoben

Hat der katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont mit seiner Rede am Dienstag abend vor dem Regionalparlament in Barcelona die Unabhängigkeit seines Landes von Spanien proklamiert – oder hat er es nicht? Die Unsicherheit über die Bedeutung der mit Spannung erwarteten Ansprache des liberalen Politikers hielt auch am Mittwoch an.

Puigdemont hatte vor den Abgeordneten zunächst die Resultate des Referendums vom 1. Oktober vorgestellt. Bei einer Wahlbeteiligung von 43 Prozent hatten dabei mehr als 90 Prozent für die Eigenständigkeit votiert. Das sei »das Mandat, dass Katalonien ein unabhängiger Staat in Form einer Republik wird«, erklärte Puigdemont. Unter den rund 30.000 Menschen, die sich in der Nähe des Parlaments versammelt hatten, brach Jubel aus. Dieser wich jedoch unmittelbar der Enttäuschung, denn Puigdemont sagte weiter: »Aus Verantwortung und Respekt bitte ich das Parlament um die Aussetzung der Unabhängigkeitserklärung.« Für »einige Wochen« solle so Raum für Gespräche geschaffen werden. Unmittelbar nach Ende der Parlamentssitzung unterzeichneten die Abgeordneten der liberal-sozialdemokratischen »Junts pel Sí« und der antikapitalistischen CUP allerdings eine vierseitige Erklärung, in der die Unabhängigkeit verkündet wird: »Katalonien stellt heute seine verlorene und lange vermisste volle Souveränität wieder her.« Praktische Bedeutung hat das Papier zunächst jedoch nicht, es soll nicht einmal im amtlichen Anzeiger veröffentlicht werden.

Der linke Flügel der Unabhängigkeitsbewegung reagierte enttäuscht auf die Rede Puigdemonts. Die CUP warf ihm Wortbruch vor, denn bis eine Stunde vor Sitzungsbeginn habe man geplant, im Plenum die Republik auszurufen und die später unterzeichnete Unabhängigkeitserklärung zu verlesen. Die Abgeordnete Eulàlia Reguant forderte am Mittwoch in Catalunya Ràdio die sofortige Ausrufung der Republik, wenn Madrid den Artikel 155 in Kraft setze. Dieser Passus der Verfassung sieht vor, die Autonomie einer Region einzuschränken, wenn diese sich gesetzlichen Vorschriften oder dem »Gemeinwohl« verweigert.

Am Mittwoch teilte Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy mit, sein Kabinett habe die katalanische Regierung formell zur Bestätigung aufgefordert, »ob sie die Unabhängigkeit Kataloniens erklärt hat«. Man wolle diese Klarstellung haben, bevor man Maßnahmen nach Artikel 155 ergreife, sagte Rajoy vor Medienvertretern in Madrid. Da die PP im Senat über die absolute Mehrheit der Sitze verfügt, könnte Rajoy diese im Alleingang durchsetzen. Er bemüht sich allerdings um die Unterstützung der rechtsliberalen »Ciudadanos« (Bürger) und der Sozialdemokraten. Deren Chef Pedro Sánchez erklärte am Mittwoch in Madrid, seine Partei unterstütze den Kurs der Zentralregierung. Zugleich habe man vereinbart, dass eine Parlamentskommission in den kommenden sechs Monaten über die Lage der autonomen Regionen in Spanien beraten solle, um anschließend »die Diskussion um eine Verfassungsreform« zu eröffnen. Die PP lehnt bislang allerdings jede Umformulierung des Grundgesetzes ab, die den Regionen mehr Eigenständigkeit zugestehen würde. Der Verdacht liegt also nahe, dass Madrid vor allem Zeit gewinnen will, um den »Independentistes« den Wind aus den Segeln zu nehmen. Irene Montero von der Linkspartei »Podemos« kritisierte deshalb, dass die drei Parteien den Konflikt eskalieren lassen würden, ohne eine Lösung anzubieten.

Erschienen am 12. Oktober 2017 in der Tageszeitung junge Welt