Führer durch den Irrgarten

Sind die Menschen im Nahen und Mittleren Osten eigentlich alle durchgeknallt? Wer im Fernsehen oder in den meisten Zeitungen die Berichte aus Syrien, dem Irak, Palästina, dem Iran oder anderen Ländern verfolgt, kann sich eines solchen Eindrucks kaum erwehren. Dabei sorgen die Diktatur der 30sekündigen Liveschaltungen zum Korrespondenten vor Ort und ähnliche Effekte in den Zeitungsredaktionen dafür, dass tatsächliche Hintergrundinformationen und Zusammenhänge über die Krisen in der Region kaum geliefert werden.

 

Gudrun Harrer vom österreichischen Standard hat sich vorgenommen, den »Nahöstlichen Irrgarten« einmal »abseits des Mainstreams« zu analysieren. Das ist ein großer Anspruch, den sie in ihrem gleichnamigen neuen Buch zum Teil einlöst. Die 20 eigenständigen Kapitel darin lesen sich meist wie Essays in einer Zeitung. Die journalistische Handschrift ist unverkennbar, was der Lesbarkeit gut tut.

Harrers Stärke ist ihr Wissen um die Bedingungen im Irak und die Diskussionen um den Iran. Überraschend ist das nicht, denn sie war Geschäftsträgerin der österreichischen Botschaft in Bagdad und gilt zudem als Expertin für die Atomprogramme in der Region. Außerdem erläutert sie als Islamwissenschaftlerin kenntnisreich die Bedeutung der verschiedenen Religionsrichtungen sowie deren Einfluss. Relativ schwach ist dagegen das mit »Die Stunde der Saudologen« überschriebene Kapitel über die Königsfamilie in Saudi-Arabien und deren Nachfolgeregelungen. Obwohl Harrer viele interessante Detailinformationen liefert, leidet dieser Abschnitt unter einem übermäßigen »Namedropping«. Sie nennt alle möglichen und unmöglichen Thronfolger, Anwärter, Stellvertreter und Prinzen – doch die Analyse bleibt mehr noch als in anderen Kapiteln an der Oberfläche.

Wer eine tiefgründige, strukturelle Untersuchung der politischen Lage in der Region lesen möchte und sich insbesondere für eine darauf bezogene Imperialismusanalyse interessiert, wird enttäuscht sein. Gerade die Rolle der USA wird von Harrer recht hilflos behandelt. Doch wer sich angesichts der täglichen Nachrichten etwas hintergründiger informieren und nicht alle diesbezüglichen »Thema«-Seiten der jW aus dem Archiv holen möchte, hat mit dem für das komplexe Thema angenehm schmalen Buch einen guten Einstieg.

Gerade für jW-Autoren (und Leser, die sich das schon immer gefragt haben) besonders interessant zu lesen ist übrigens der Einstieg von Gudrun Harrer, in dem sie über die Schwierigkeiten berichtet, die arabischen Namen und Ortsangaben korrekt ins Deutsche zu übertragen. Heißt Ägyptens gestürzter Präsident Morsi oder Mursi? Ist der kurdische Name von Ain Al-Arab nun Kobani oder Kobane, wenn der Zeichensatz der eigenen Zeitung die Sonderzeichen der kurdischen Sprache nicht bewältigen kann? Harrers Lösung für dieses Problem ist einfach: »Ich kapituliere – und widme mich lieber den Inhalten.«

Gudrun Harrer: Nahöstlicher Irrgarten: Analysen abseits des Mainstreams. Verlag Kremayr&Scheriau, Wien 2014, 192 Seiten, 22 Euro

Erschienen am 27. Oktober 2014 in der Tageszeitung junge Welt