Florentinos Tanz mit dem Teufel. Venezuela wenige Wochen vor dem Referendum

Am 15. August sind die Menschen Venezuelas an die Urnen gerufen, um über eine vorzeitige Abberufung des regulär bis Ende 2006 gewählten Präsidenten Hugo Chávez zu entscheiden. Während die privaten Medien und die Anhänger der Opposition dafür trommeln, mit „Ja“ zu stimmen, gehen die Anhängerinnen und Anhänger des Präsidenten von Haus zu Haus und werben für das „Nein“. Die etwas paradoxe Situation, daß wer für Chávez ist, mit „Nein“ stimmen muß, liegt an der von der obersten Wahlbehörde, dem Nationalen Wahlrat (CNE), formulierten Fragestellung, nach der die Wählerinnen und Wähler entscheiden müssen, ob sie dafür sind „daß das Mandat des Präsidenten Hugo Chávez Frías aufgehoben wird“.

Bis zum 10. Juli konnten sich noch alle in das Wählerverzeichnis eintragen, die dort bislang nicht verzeichnet waren. Während dies in Venezuela selbst offenbar hauptsächlich Menschen waren, die erst in den letzten Monaten im Rahmen der sozialen Kampagnen der Regierung über ihre Rechte aufgeklärt worden waren, sah das Bild im Ausland anders aus. In den Konsulaten und Botschaften Venezuelas waren es scheinbar vor allem Anhänger der Opposition, die sich in die Listen eintrugen, um am 15. August gegen den Präsidenten stimmen zu können. Angesichts der gerade im Ausland verbreiteten Hetze gegen Chávez und die „Bolivarische Revolution“ kaum ein Wunder. Insgesamt werden bei dem Referendum dem CNE zufolge knapp 14 Millionen Menschen wahlberechtigt sein.

Mit ihrem Wahlprogramm hat sich die Opposition hingegen offenbar einen Bärendienst erwiesen. Nicht nur, daß die Regierung nachweisen konnte, daß die Ausarbeitung des Papiers und die Wahlkampagne der Opposition von den USA mit über 300 Millionen US-Dollar finanziert wurde. Die Ankündigungen, was die Opposition im Falle eines Erfolges zu tun gedenkt, sind außerdem kaum werbewirksam. Das Gesetz über die Bodenreform soll „überarbeitet“ – also abgeschafft – werden, keine Garantie gibt es für die Zukunft der medizinischen und Bildungsprogramme wie die Alphabetisierungskampagne „Mission Robinson“ oder das Ärzteprogramm „Barrio Adentro“. Statt dessen sollen die Beziehungen zu Kuba „normalisiert“, also eingeschränkt, werden, was vermutlich den Abzug der kubanischen Ärztinnen und Ärzte aus den armen Vierteln der Großstädte bedeuten würde. Im Erdöl- und Stromsektor soll es zu massiven Privatisierungen kommen. Und ganz nebenbei sollen auch die Referenden abgeschafft werden. „Auf welcher moralischen Grundlage nutzen sie am 15. August ein Instrumentarium, das sie im unwahrscheinlichen Fall ihres Erfolges abschaffen wollen?“ fragt deshalb nicht zu Unrecht der venezolanische Informationsminister Jesse Chacón gegenüber Venpres.

In der Tat ist es wohl kaum der Wunsch der Opposition gewesen, sich dem Urteil des venezolanischen Volkes an den Urnen zu stellen, obwohl sie seit Monaten und Jahren nichts anderes behauptet. Viel eher scheinen die rechten Organisationen darauf spekuliert zu haben, daß die Regierung nach den durch Fälschungen und Manipulationen gekennzeichneten Unterschriftensammlungen das Referendum nicht anerkennen würde. Dann hätten die von der Opposition kontrollierten Medien und in ihrem Chor die USA und die Europäische Union der revolutionären Regierung „undemokratisches Verhalten“ und „Diktatur“ vorgeworfen. Es war aber Präsident Chávez selbst, der sofort nach der Mitteilung des CNE, daß die Opposition die notwendige Zahl an Unterschriften knapp überschritten habe, die Entscheidung akzeptierte und seine Anhängerinnen und Anhänger zum Wahlkampf, zur „Schlacht von Santa Inés“ aufrief.

In Santa Inés hatte der „General des freien Volkes“, der Bauernführer Ezequiel Zamora, am 10. Dezember 1859 den Truppen der Großgrundbesitzer eine vernichtende Niederlage beigebracht, nachdem er diese durch einen geschickten Rückzug dazu verleitet hatte, ihm auf ein für die Bauern günstiges Territorium zu folgen. Chávez vergleicht den aktuellen Wahlkampf mit dieser Schlacht, da es zum ersten Mal gelungen sei, die Opposition zu einer Auseinandersetzung auf dem Boden der Verfassung zu zwingen. Alle bisherigen Versuche der Rechten, den Präsidenten Chávez zu stürzen – mehrere Mordanschläge, der Putsch vom April 2002 sowie die zweimonatige Massenaussperrung und Sabotage der Erdölindustrie an der Jahreswende 2002/2003 – waren ebenso illegal wie erfolglos gewesen.

Ganz nebenbei macht der Präsident auch eine Copla, eine in Venezuela populäre Gedichtsform mit gesungenen Versen, populär. Alberto Arvelo Torrealba hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Versen die Begegnung und den Kampf zwischen dem Coplero Florentino und dem Teufel beschrieben und damit eine alte Legende aufgegriffen. Florentino stellt sich der Herausforderung durch den Teufel und erfüllt seine Pflicht, indem er ihn besiegt. Nicht zufällig ist der Ort des Kampfes zwischen Florentino und dem Teufel ebenfalls Santa Inés: „Mein Freund, wenn du dich traust / erwarte mich in Santa Inés, / denn ich werde dich dort holen / um mit dir zu singen / … / Wisse du düsterer Sänger / ich erfülle das Gesetz / und da ich mit allen gesungen habe / muß ich auch singen mit ihm.“

Wenn es der bolivarianischen Bewegung und den zuständigen Behörden diesmal gelingt, Fälschungen zu verhindern, dürfte der Sieg von „Florentino“ Chávez über den „Teufel“ Coordinadora Democrática (das Oppositionsbündnis) sicher sein. Alle seriösen Umfragen sehen eine Unterstützung für den Präsidenten zwischen 55 und 70 Prozent. Viele dieser Umfragen waren sogar von der Opposition selbst in Auftrag gegeben worden und werden jetzt schleunigst unter den Tisch gekehrt. Auf den Homepages der Opposition und der von ihnen kontrollierten Medien sind seit Wochen keine Umfragen mehr zu finden, sonst vor Wahlen und Abstimmungen eigentlich liebstes Thema bürgerlicher Medien.

Diese Einschätzungen teilen auch die Analysten Luis Vicente León und Miguel Salazar gegenüber der französischen Agentur AFP. „Chávez wächst weiter und die Opposition sieht sich weiter geschwächt, wenn sie ihre Anhänger nicht mit einer deutlich kräftigeren Botschaft mobilisieren kann“, analysiert León, der für das Meinungsforschungsinstitut Datanálisis arbeitet. Dieses Institut hatte noch Mitte Juni erklärt, 57 Prozent der Venezolanerinnen und Venezolaner würden am 15. August gegen den Präsidenten stimmen. León kritisiert die Opposition dafür, daß es ihr bislang nicht gelungen sei, ein „starkes Element“ gegen Chávez vorzubringen. „Diese Botschaft Light erlaubt keinen Frontalangriff auf Chávez“ meint León, der sich an die seit Jahren anhaltende zügellose Hetze in den Privatmedien offenbar bereits zu sehr gewöhnt hat. Im Gegenzug sieht er eine „sehr starke Kampagne“ der Regierungsanhänger, die erfolgreich auf die Errungenschaften der Bolivarischen Revolution verweisen. Darüber hinaus habe Chávez mangels herausragender oppositioneller Führungsgestalten einen „künstlichen Gegner“ geschaffen, den US-Präsidenten Bush.

Der regierungskritische Kolumnist Miguel Salazar, Verfasser der umstrittenen „Wahrheiten von Miguel“ (Las Verdades de Miguel) geht ebenfalls davon aus, daß der Präsident im Vorteil ist. Er sieht 56 Prozent der Stimmen für Chávez und nur 43 Prozent gegen den Präsidenten bei einer Enthaltung von etwa 35 Prozent. Diese Zahlen ähneln den Prognosen des US-amerikanischen North American Research, das bereits Mitte Juni auf 57 Prozent der Stimmen für Chávez und nur 41 Prozent dagegen ermittelt hatte.

Unterdessen blickt Chávez selbst nach vorn. Beim Gipfel der Staaten des Gemeinsamen Südamerikanischen Marktes – Mercosur – wurde Venezuela Anfang Juli als assoziiertes Mitglied aufgenommen. Übereinstimmend wurde dies als ein großer diplomatischer Erfolg für die Regierung angesehen, die damit die regionale Integration und die Stärkung der südamerikanischen Länder gegenüber den USA weiter vorantreibt. Außerdem unterzeichneten Chávez und sein argentinischer Amtskollege Kirchner mehrere Abkommen, so über die Bildung eines gemeinsamen südamerikanischen Erdölkonsortiums oder über den Aufbau eines internationalen südamerikanischen TV-Nachrichtensenders nach dem Beispiel des arabischen Al-Dschasira und als Gegengewicht zu den von den USA beherrschten Medien vom Schlage CNN. Auch der begonnene Neuaufbau einer staatlichen venezolanischen Luftfahrtgesellschaft – Conviasa – macht die Regierung in Venezuela populär. Die frühere Gesellschaft Viasa war 1992 privatisiert und an die spanische Iberia verkauft worden, die den Betrieb umgehend einstellte.

Mit Blick auf das Referendum rief Chávez „alle Sektoren des Landes“ dazu auf, nach dem 15. August nachzudenken. „Meine Türen sind geöffnet, um eine vernünftige Diskussion zu beginnen“, lud er die Opposition ein. „Wir hassen sie nicht, wir wollen sie nicht umbringen, wir wollen sie nicht aus Venezuela vertreiben, sondern in Frieden mit ihnen leben,“ sagte Chávez in seiner wöchentlichen Radio- und Fernsehsendung „Aló Presidente“, deren 198. Folge am 18. Juli ausgestrahlt wurde. Er unterstrich aber, daß der revolutionäre Prozeß fortgesetzt werde: „Die Regierung stärkt die soziale Wirtschaft, nicht die Wirtschaft des Kapitals“, kritisierte Chávez die Angriffe der Opposition auf die sozialen Programme.

Artikel vom 19. Juli 2004