»Europa« reformieren?

Die Mehrheitsentscheidung der britischen Wähler, die EU zu verlassen, hat die Befürworter des Staatenbundes auf den Plan gerufen. »Das ist ein trauriger Tag für die EU«, kommentierte etwa Phi­lippe Lamberts, der Kovorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament. »Wir Grüne sind überzeugt, dass die Europäische Union das beste ist, um gemeinsam Frieden und Stabilität zu sichern.« Bundeskanzlerin Angela Merkel übte sich im Philosophischen: Die »Idee der europäischen Einigung« sei eine »Friedensidee«, teilte sie in ihrem ersten Statement nach der Brexit-Entscheidung mit. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini betonte, die EU werde »eine Kraft für Frieden, Sicherheit und internationale Zusammenarbeit« bleiben. Die Europaabgeordnete Martina Michels (Die Linke) teilte mit: »Globale Probleme und sozia­le Schieflagen vor Ort lösen wir nicht durch einen Rückzug in die Nationalstaaten.«

Zur »Reform« der Union bringt Michels einen »Verfassungskonvent« ins Spiel. Einen solchen gab es allerdings erst vor einigen Jahren. Das Ergebnis war die neoliberale EU-Verfassung, die 2006 in Kraft treten sollte, aber 2005 von den Franzosen und Niederländern per Referendum abgelehnt wurde. Als Konsequenz wurde 2007 der inhaltlich kaum andere »Lissabon-Vertrag« in Kraft gesetzt, ohne diesen noch mal Volksabstimmungen auszusetzen.

Es sind auch solche Manöver, die dazu geführt haben, dass etwa die Kommunistische Partei Britanniens (CPB) für den Brexit geworben hat, weil sie die EU für nicht reformierbar hält.

Was die Befürworter der Union auch nach der Brexit-Entscheidung gerne unterschlagen: Der EU fehlt es bis heute an demokratischer Legitimation. Die komplizierten Entscheidungsstrukturen und Zuständigkeiten in ihrem Inneren sind kaum durchschaubar.

Die oberste Instanz der EU ist der »Europäische Rat«, der nichts anderes ist als das Gipfeltreffen der Regierungschefs. Treffen sich die Minister zu Beratungen über ihre jeweiligen Fachgebiete, nennt sich das schlicht »Rat«. In diesen Gremien sollen die strategischen Entscheidungen von allen Mitgliedsstaaten gleichberechtigt getroffen werden. Tatsächlich aber sind einige gleicher. Das wurde während der »Griechenland-Krise« deutlich, als die Gipfeltreffen einander jagten, um Entscheidungen abzusegnen, die Merkel zuvor mit einzelnen Regierungschefs ausgekungelt hatte.

Der »Europäische Rat« schlägt auch die Zusammensetzung der EU-Kommission vor, die zwischen den Gipfeltreffen als Kommandozentrale der Uni on agiert.

Weder der Rat noch die Kommission sind also direkt von den Bürgern gewählt worden. Das einzige Gremium der EU, über dessen Zusammensetzung in allgemeinen Wahlen entschieden wird, ist das Europäische Parlament. Und das hat nur eingeschränkte Befugnisse. So können die Abgeordneten zwar Haushaltsentwürfe der Kommission ablehnen und auch die Wahl der Kommissare verweigern – sie haben aber keine Möglichkeit, selber Gesetze und Verordnungen zu initiieren. 100 Prozent der Parlamentarier könnten dafür sein, einen bestimmten Kandidaten zum Kommissionspräsidenten zu wählen – wenn die Regierungschefs diesen nicht nominieren, hat das Parlament keine Möglichkeit, seinen Favoriten durchzusetzen.

Mit dem Lissabon-Vertrag wurde auch die »Europäische Bürgerinitiative« eingeführt. Mit dieser kann die EU-Kommission aufgefordert werden, ein Gesetz zu erlassen. Nötig sind dazu die Unterschriften von mindestens einer Million EU-Bürgern aus mindestens einem Viertel der Mitgliedsstaaten. Wenn die zusammen sind, muss die Kommission den Vorschlag beraten. Mehr nicht. Sie kann nicht gezwungen werden, das Anliegen der Bürger aufzugreifen. Demokratie sieht anders aus.

Erschienen am 27. Juni 2016 in der Tageszeitung junge Welt