EU angeklagt

Es ist ein Bild, das wohl kaum Realität werden wird: Jean-Claude Juncker, Emmanuel Macron und Angela Merkel auf der Anklagebank in Den Haag. Ganz ausgeschlossen ist das jedoch nicht, denn im Juni reichte eine Gruppe von Juristen um die Anwälte Omer Shatz und Juan Branco Klage beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gegen die Europäische Union und ihre führenden Vertreter ein. Sie werfen ihnen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, weil die EU durch ihre Politik für den Tod Tausender Menschen durch Ertrinken im Mittelmeer verantwortlich sei.

Europas Regierungen und die EU-Kommission weisen die Vorwürfe zurück. Man setze sich vielmehr dafür ein, dass sich die Situation der Geflüchteten in libyschen Sammellagern verbessere, sagte der Sprecher der Bundesregierung, Steffen Seibert, am 3. Juni in Berlin. Immerhin habe man bereits 300 Migranten aus Libyen übernommen und angekündigt, noch einmal genauso viele aufzunehmen. Zudem bemühe sich die Bundesregierung darum, die Lebensverhältnisse in den Lagern zu verbessern.

Shatz ist über solche Äußerungen empört. Bei einem Fachgespräch, das auf Initiative der linken Bundestagsabgeordneten Zaklin Nastic und Ulla Jelpke in der vergangenen Woche in Berlin stattfand, erinnerte der Anwalt daran, dass deutsche Diplomaten die Zustände in Libyen mit Konzentrationslagern verglichen hätten. »Man verbessert nicht die Lage in KZ, man schließt sie«, erklärte der renommierte Jurist, der in Paris und Bordeaux Völkerrecht lehrt. Mit Blick auf die von Berlin aufgenommenen Menschen erinnerte er daran, dass täglich eine ähnlich hohe Zahl von Menschen auf dem Weg nach Europa abgefangen und in die Lager gebracht werde.

Zuvor hatte er bereits im Menschenrechtsausschuss des Bundestages darauf aufmerksam gemacht, dass auch die Bundesrepublik als EU-Mitglied zumindest indirekt an der Finanzierung und damit am Betrieb der Lager beteiligt ist. Erst am 26. September hatte die EU ihre Operation »Sophia« und die Zusammenarbeit mit der »Libyschen Küstenwache« um weitere sechs Monate verlängert. Schiffe werden auch künftig nicht eingesetzt. Denn wenn diese Schiffe Menschen aufnehmen, sind sie nach internationalen Gesetzen verpflichtet, die Geretteten in den nächsten sicheren Hafen zu bringen – diese liegen in Italien oder Malta, nicht jedoch in Nordafrika. Die EU habe sich also entschieden, »anstatt einzugreifen, einfach dem langsamen Tod von Kindern, Frauen und Männern zuzusehen«, sagte Shatz dazu im Bundestag. »Im besten Fall werden die Informationen genutzt, um sicherzustellen, dass die betroffenen Menschen kollektiv abgewiesen und in dieselben Konzentrationslager zurückgebracht werden, vor denen sie fliehen.«

Erschienen am 2. Oktober 2019 in der Tageszeitung junge Welt