»Es ist Zeit für eine Volksfront«

Gespräch mit Piedad Cordoba. Sie gehört der Liberalen Partei Kolumbiens an und war Mitglied des kolumbianischen Senats. Sie wurde international als Vermittlerin zwischen der FARC-Guerilla und der Regierung bekannt. Seit April ist sie eine von vier Sprecherinnen und Sprechern der Bewegung »Marcha Patriótica« (Patriotischer Marsch)

Als Sie im April die Bewegung »Marcha Patriótica« gründeten, wurde Ihnen aus Regierungskreisen vorgeworfen, »legaler Arm« der FARC-Guerilla zu sein. Heute wissen wir, daß die Regierung zu diesem Zeitpunkt bereits in Havanna mit den Aufständischen verhandelt hat. Ist das nicht ein Widerspruch?

Ja, das ist verlogen und ein Ausdruck der Besessenheit des gegenwärtigen Präsidenten gegen jede echte Opposition und gegen alles, was seine Privilegien gefährden könnte. Zudem ist diese Haltung sehr gefährlich, weil dadurch jede Möglichkeit verbaut werden soll, das Land in einer anderen Weise zu führen. Ihm ist es dadurch sogar gelungen, Teile der Linken so zu erschrecken, daß sie die Kommunistische Partei wegen ihrer Beteiligung an der Marcha Patriótica aus dem linken oppositionellen Parteienbündnis Polo Democrático ausgeschlossen haben.

Die Marcha Patriótica betont, daß es ihr um den Kampf um die Macht geht, nicht um die Gründung einer weiteren Oppositionspartei. Wie realistisch ist dieses Ziel? Von welchem Zeitrahmen gehen Sie aus, um dieses Ziel zu erreichen?

Es ist kein Zufall, daß unsere Bewegung zu einem Zeitpunkt entstanden ist, der nicht im Wahlkampf lag. Bündnisse, die in Wahlkampfzeiten entstehen, sind in erster Linie Absprachen über gemeinsame Kandidaturen und Geschacher um Posten. Darunter leiden die gemeinsamen Vorhaben und Ziele. Worauf es in unserem Land ankommt, ist, einen breiten Kreis von Menschen zu schaffen, die gemeinsam ein anderes Land aufbauen, gemeinsam gegen die Korruption, die Ausbeutung und den Krieg vorgehen wollen. Das Mindeste, was geschehen muß, damit wir als Gesellschaft leben können, ist, Wege zu finden, die derzeitige Macht zu stürzen. Dabei kann es nicht darum gehen, 30 Jahre zu warten.

In wenigen Tagen, voraussichtlich am 8. Oktober, werden in Oslo die Friedensverhandlungen zwischen den FARC und der Regierung Kolumbiens offiziell eröffnet. Was erwartet die Marcha Patriótica von diesen Gesprächen?

Wir haben sehr viel damit zu tun, daß diese Gespräche möglich wurden. Als Kolumbianerinnen und Kolumbianer für den Frieden haben wir zum Austausch von Botschaften und zur Freilassung von Gefangenen durch die FARC beigetragen. Deshalb wollen wir an den Friedensgesprächen teilnehmen. Wir hoffen, daß die verschiedenen Organisationen nicht ohne Einigung vom Verhandlungstisch aufstehen. Aber Abkommen, die dort erzielt werden, reichen in ihrer Bedeutung weit über die Guerilla und die Regierung hinaus, sie betreffen die gesamte Gesellschaft.

Für die meisten war die Nachricht, daß es zu diesen Friedensverhandlungen kommen würde, eine große Überraschung. Schließlich war der heutige Präsident Juan Manuel Santos als Verteidigungsminister unter Álvaro Uribe einer der Hauptverantwortlichen für den damaligen Kriegskurs. Wie erklären Sie sich, daß der Staatschef seine Meinung so geändert hat?

Als Verteidigungsminister stand er fest auf der Seite des Krieges, und als Präsident stellt er sich nun auf die Seite des Friedens. Das hat damit zu tun, daß die gesamte Region genug vom Krieg hat, denn die Folge des kolumbianischen Konflikts ist auch ein Export des Paramilitarismus und eine Destabilisierung des gesamten Kontinents. Ein zweiter Grund ist, daß sich Santos dem transnationalen Kapital verpflichtet fühlt. Und die Konzerne sind wegen des Krieges besorgt. So wurden vor anderthalb Jahren vier Chinesen entführt. Der Krieg schadet also ihren Geschäften.

Sie kommen aus der Liberalen Partei. Einer Ihrer Sprecherkollegen bei der Marcha Patriótica ist Carlos Lozano von der Kommunistischen Partei. Hierzulande wäre es schwer vorstellbar, daß Kommunisten und Liberale gemeinsam eine Organisation führen…

Ich gehöre in der Liberalen Partei einer Richtung an, die seit sehr langer Zeit dieselben Ziele verfolgt wie die Kommunisten. Wir haben uns in der Vergangenheit immer auf derselben Seite, bei denselben Aktivitäten getroffen, so daß es für mich gar nicht schwierig ist, mit Carlos zusammenzuarbeiten. Wir waren zwar – parteipolitisch gesprochen – in unterschiedlichen Zusammenhängen aktiv, aber die Menschen sind dieselben, verfolgen die gleichen Ziele. Wir glauben, daß jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, eine Volksfront zu schaffen, offene Räume des Kampfes für die Interessen des Volkes.

Erschienen am 1. Oktober 2012 in der Tageszeitung junge Welt