Erdogan stellt sich taub

In der Türkei reißen die Proteste gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nicht ab. In Ankara kam es einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters zufolge am Montag erneut zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und rund 1000 Demonstranten, die zum zentralen Kizilay-Platz marschierten. In der Hauptstadt wurden die Zufahrtswege zum Amtssitz des Regierungschefs abgeriegelt, nachdem es bis in die Nacht zum Montag hinein in mehreren Städten der Türkei zu Straßenschlachten gekommen war. In Izmir gingen Büros der regierenden islamisch-konservativen AKP in Flammen auf, in Istanbul errichteten Demonstranten Barrikaden. Für Montag abend waren in mehreren Städten erneut Kundgebungen angekündigt worden.

 

Die Zahl der Verhafteten ist Angaben der Oppositionspolitikerin Aylin Nazliaka zufolge auf mehr als 1500 gestiegen. Inzwischen wurde auch das erste Todesopfer offiziell bestätigt. Die türkische Ärztevereinigung TTB teilte mit, daß Mehmet Ayvaltas seinen schweren Verletzungen erlegen sei. Der Aktivist der sozialistischen Organisa­tion ­SODAP war am Sonntag in Istanbul von einem Fahrzeug überrollt worden, das ohne ersichtlichen Grund in die Menge der Demonstrierenden gerast war. Bei den Insassen soll es sich der kurdischen Nachrichtenagentur Firat zufolge um Zivilpolizisten gehandelt haben. Die TTB machte die Regierung für den Tod des 20jährigen verantwortlich. Die provokative Haltung Erdogans habe die Lage zusätzlich verschärft.

Der Regierungschef setzt unterdessen weiter auf Härte. Am Montag wies er Journalisten zurecht, die ihn gefragt hatten, ob die Regierung die »Botschaft der Demonstranten« verstanden« habe. »Wie lautet die Botschaft?« stellte er sich taub und wetterte weiter, wieso er denn seinen Ton mäßigen solle: »Dieser Protest ist von extremistischen Elementen organisiert worden«, die »Arm in Arm mit Terroristen« marschieren würden.

Am Montag jährte sich der Tod des Dichters Nazim Hikmet, der 15 Jahre im Gefängnis saß und 20 Jahre im Exil leben mußte, zum 50. Mal. Am Vorabend stürmte die Polizei in Ankara ein Kulturzentrum, das dessen Namen trägt. Sprecher der Kommunistischen Partei der Türkei (TKP), deren Zentrale im selben Gebäude untergebracht ist, informierten, daß die Polizei Tränengasgranaten in das Café des Kulturzentrums geschossen habe. Mehrere Besucher seien verletzt worden. In Iskenderun habe die Polizei zudem das Feuer auf mehrere Mitglieder der Partei eröffnet. Bei deren Flucht sei einer von ihnen schwer verletzt worden und schwebe in Lebensgefahr. Das Volk werde der Gewalt jedoch nicht weichen, zeigte sich die Partei überzeugt und forderte erneut den Rücktritt Erdogans.

Für den heutigen Dienstag haben die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes in der Türkei zum Streik gegen die gewaltsame Unterdrückung der Proteste aufgerufen. Der Dachverband KESK verurteilte den »AKP-Faschismus«, der das gesamte Land mit Staatsterror überzogen und die Städte einer Belagerung unterworfen habe. Auch in mehreren deutschen Städten demonstrierten am Wochenende Tausende gegen die Unterdrückung in der Türkei. So beteiligten sich am Sonnabend in Mannheim rund 2500 Menschen an einer spontanen Kundgebung, zu der türkische Verbände aufgerufen hatten. Das deutsche Generalkonsulat in Istanbul rief Touristen auf, Menschenansammlungen zu meiden, während die syrische Regierung ihren Bürgern wegen der verschlechterten Sicherheitslage ganz von Reisen in die Türkei abrät.

Erschienen am 4. Juni 2013 in der Tageszeitung junge Welt