Erdogan rechnet ab

Nach dem Putschversuch vom vergangenen Freitag nutzt die türkische Regierung die Gunst der Stunde, um endgültig den gesamten Staatsapparat unter ihre Kontrolle zu bringen. Wie Ministerpräsident Binali Yildirim am Montag im staatlichen Fernsehen TRT sagte, wurden bislang mehr als 7.500 Personen im Zusammenhang mit der Revolte inhaftiert. Festgenommen wurden unter anderem zwei Verfassungsrichter, sechs Richter des Kassationsgerichts und 18 des Obersten Gerichtshofes. Die kurdische Nachrichtenagentur ANF veröffentlichte eine Liste mit den Namen hochrangiger Militärs, die als Putschisten inhaftiert worden seien. Unter ihnen seien mehrere Befehlshaber, die Operationen der türkischen Streitkräfte in den kurdischen Gebieten geführt hätten. »Der Zerfall des türkischen Staates schreitet voran«, frohlockte die Agentur deshalb. Mehr als 13.000 Staatsangestellte wurden ihrer Ämter enthoben, unter ihnen 30 Provinzgouverneure.

Führende Vertreter des Regimes propagieren eine Wiedereinführung der Todesstrafe – weil dies von »der Bevölkerung« verlangt werde. Diese Forderung dürfe »nicht übersehen werden«, erklärte Staatschef Recep Tayyip Erdogan in TRT. In Demokratien entscheide das Volk. Am Montag berichtete der Fernsehsender NTV, dass der Vizebürgermeister des Bezirks Sisli in Istanbul bei einem Attentat schwer verletzt worden sei. Unbekannte seien in das Büro von Cemil Candas, der Mitglied der kemalistischen Oppositionspartei CHP ist, eingedrungen und hätten ihm in den Kopf geschossen. Am Nachmittag meldeten türkische Medien, Candas sei seinen Verletzungen erlegen. Schon am Wochenende hatte es zahlreiche Berichte über Angriffe von Erdogan-Anhängern auf die Büros von Oppositionsparteien gegeben.

Die europäischen »Partner« Ankaras reagierten mit Worten. Das Vorgehen der türkischen Regierung mache ihn sehr besorgt, sagte EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn am Montag in Brüssel. Dass die Listen für Verhaftungen direkt nach dem Putsch verfügbar gewesen seien, »weist darauf hin, dass es vorbereitet war und sie zu einem bestimmten Zeitpunkt genutzt werden sollten«. Rechtsstaatlichkeit und demokratische Grundsätze müssten eingehalten werden, forderte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. »Lassen Sie mich sehr klar sein: Kein Land kann ein EU-Staat werden, wenn es die Todesstrafe einführt.« Frankreichs Außenminister Jean-Marc Ayrault warnte vor einer »autoritären Herrschaft«, sein österreichischer Amtskollege Sebastian Kurz vor einem »Freibrief für Willkür«. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) forderte von Ankara, die »Verhältnismäßigkeit« zu beachten. Ernsthafte Konsequenzen will man in Brüssel und Berlin jedoch nicht ziehen. Die Türkei bleibe ein »wichtiger Partner« im Wirtschaftsbereich und in der »Flüchtlingskrise«, erklärte der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion, Manfred Weber (CSU). Die EU-Kommission hält auch am Flüchtlingsabkommen mit der Türkei fest. Man hoffe, dass die Regierung in Ankara ihre Zusagen genauso wie die EU weiter umsetze, hieß es in Brüssel. Auch im Krieg lassen sich NATO und EU nicht stören. Die Operationen der »Tornados« der Bundeswehr vom Stützpunkt Incirlik gingen ungestört weiter, sagte die Sprecherin des Einsatzführungskommandos, Christiane Perthel. »Die Zusammenarbeit gestaltet sich ganz professionell und problemlos. Die deutsch-türkischen Militärbeziehungen laufen weiter auf guter Basis. Das ist ein hohes professionelles Miteinander.«

Erschienen am 19. Juli 2016 in der Tageszeitung junge Welt