Enteignungswelle

Venezuelas Unternehmer rufen für den kommenden Sonnabend zu einer Demonstration gegen die anhaltende Welle von Verstaatlichungen in dem südamerikanischen Land auf. Der Chef des Industriellenverbandes Fedecámaras, Noel Álvarez, warf der venezolanischen Regierung vor, eine »Kampagne gegen das Privateigentum« zu führen, und verwies auf die jüngsten Enteignungen von Agroisleña, einem spanischen Produzenten von Saatgut und Pflanzenschutzmitteln, des US-Glasfabrikanten Owens-Illinois und des Stahlproduzenten Sidetur. Allein in den vergangenen drei Jahren wurden Zeitungsberichten zufolge in Venezuela 347 Unternehmen nationalisiert, die Hälfte davon allein in diesem Jahr – und ein Ende ist nicht abzusehen. Grundlage dafür ist die 1999 verabschiedete Verfassung des Landes, in der es heißt, daß Enteignungen nur »aus Gründen des öffentlichen Nutzens oder gesellschaftlichen Interesses« und gegen Entschädigung erfolgen dürfen.

Bereits am Sonnabend sind hingegen Tausende Anhänger der Regierung zur Unterstützung der Verstaatlichungen auf die Straße gegangen. Zu der Demonstration in Caracas hatte die regierende Vereinte Sozialistische Partei (PSUV) aufgerufen. Der für die Organisation solcher Aktionen in Caracas zuständige PSUV-Funktionär Carlos Sierra begründete dies gegenüber der kubanischen Nachrichtenagentur Prensa Latina damit, daß die Maßnahmen der Regierung »aus Respekt vor dem Privateigentum« erfolgten, daß durch die Oligarchie gefährdet werde. Die enteigneten Unternehmen hätten Tausende Venezolaner durch ihr betrügerisches Verhalten geschädigt, sagte der Parlamentsabgeordnete.

Entgegen der oppositionellen Erklärungen, wonach die Enteignungen die venezolanische Wirtschaft schädigten, verweist die Regierung darauf, daß in ihrer Amtszeit seit 1999 die landwirtschaftlich genutzten Flächen um 40 Prozent zugenommen hätten. Auch die Gemüseproduktion sei um 25 Prozent gewachsen, beim Maisanbau sogar um über 100 Prozent, so daß sich Venezuela in diesem Bereich mittlerweile selbst versorgen könne. Auch wenn Venezuela nach wie vor einen Großteil der benötigten Lebensmittel einführen muß, konnten diese Importe im ersten Halbjahr 2010 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 34 Prozent bzw. fast eine Milliarde US-Dollar reduziert werden. Das war allerdings zumindest zum Teil auch eine Folge der durch die Weltwirtschaftskrise herrschenden Devisenknappheit im Land.

Unklar ist allerdings, wie sich die Produktivität der Betriebe nach ihrer Verstaatlichung entwickelt. Der Stromversorger der Hauptstadt Caracas, EdC, das Telekommunikationsunternehmen CANTV und andere haben seit ihrer Übernahme durch die Regierung keine Geschäftsberichte mehr veröffentlicht. Eine kurzfristige Erfolgsmeldung gibt es aus dem Stahlwerk von Lara. Nach der Nationalisierung von Sidetur vor zwei Wochen konnte hier die Produktion um 50 Prozent gesteigert werden, teilte der Generalsekretär der Betriebsgewerkschaft, Orlando Vera, mit. Das sei ein Ausdruck der Freude der Arbeiter über die Entscheidung der Regierung. Ob sich dieser Trend jedoch langfristig fortsetzen läßt, konnte er nicht sagen. Andere Betriebe waren vom Staat übernommen worden, weil sie von den vorherigen Besitzern ohne zwingenden Grund geschlossen worden waren, wodurch kleinere Unternehmen wie Zulieferbetriebe in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Venezuelas Präsident Hugo Chávez verweist außerdem mit Blick auf die Enteignung von Agroisleña auf die konkreten Ursachen, die zu dieser Verstaatlichung geführt haben. In seiner wöchentlich erscheinenden Zeitungskolumne »Las líneas de Chávez« schrieb er Mitte Oktober: »Wir müssen um jeden Preis verhindern, daß dieses Oligopol weiter mit seinen Preisen und hohen Kreditzinsen unsere Bauern erpreßt und uns zugleich mit Pestiziden und umweltschädlichen Produkten, die unsere Böden auslaugen, einen Ökozid aufzwingt.«

Kritik kommt aber auch aus dem eigenen Lager. Die Kommunistische Partei Venezuelas (PCV) unterstützt zwar generell die Verstaatlichungen, bemängelt jedoch »die bürokratische und administrative Methode«, die bei deren Durchführung angewandt werde. Gerade die betroffenen Arbeiter müßten mehr in die Entscheidungen einbezogen werden, forderte die Partei in einer in der vergangenen Woche veröffentlichten Erklärung ihres Zentralkomitees. Darin warnen die Kommunisten auch, daß sich der revolutionäre Prozeß in Venezuela »gefährlich verschleißt«. Ein Grund dafür sei, »daß Teile der Kleinbourgeoisie und der Mittelschicht im politischen Prozeß eine hegemoniale Kontrolle übernommen haben« und so im Staatsapparat eine bürokratische Elite entstanden sei.

Erschienen am 15. November 2010 in der Tageszeitung junge Welt