Eine Reise in die Revolution – Streiflichter aus Venezuela

"Kommt es so sehr auf den Namen an?" reagierte Venezuelas Vizepräsident José Vicente Rangel auf meine Frage, ob die Entwicklung in dem südamerikanischen Land tatsächlich als eine Revolution bezeichnet werden kann. "Heute werden in Venezuela Dinge unternommen, die es hier vorher nie gegeben hat", erläuterte Rangel. "1,5 Millionen Menschen in Venezuela können nicht Lesen und Schreiben. Um dies zu ändern, haben wir die Mission Robinson in Angriff genommen. Einer halben Million Abiturienten, die bisher keine Hochschule besuchen konnten, garantieren wir ein Studium an der Bolivarianischen Universität. Wir bringen zum ersten Mal Ärzte in die Barrios, in die Siedlungen der Armen. Durch die Vergabe von Kleinkrediten bekommen zu ersten Mal diejenigen ein Startkapital, denen nie ein Kredit gewährt wurde. Wir fördern die Bildung von Kooperativen und entwickeln eine Verteilung von Lebensmitteln alternativ zu dem kapitalistischen System, das wir haben. Wir haben die demokratischste und fortgeschrittenste Verfassung der Welt, eine neue öffentliche Ordnung, die dicht mehr nur auf Repression beruht. Wir Verfolgen eine Politik der Einheit Lateinamerikas, eine nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Integration. All das kann man nennen wie man will, aber vor dem Hintergrund der Geschichte Venezuelas können wir diesen Prozeß durchaus als eine Revolution bezeichnen. Wir haben den Reichen nicht ihr Häuschen genommen, aber die Macht, sich Regierungen anzueignen."

In der Tat war es eine Reise in die Revolution, die der Bolivarianische Zirkel in Deutschland mir und einem guten Dutzend weiterer Journalistinnen und Journalisten auf Einladung mehrerer Abgeordneter der Nationalversammlung ermöglicht hat. Das Programm der knappen zwei Wochen war randvoll gepackt, manch wichtiger Termin konnte nicht mehr wahrgenommen werden, weil andere Dinge noch wichtiger waren. Vielleicht die Gelegenheit nutzen und einen Nachmittag am Strand verbingen? Vergiß es!

Schon die Ankunft in Caracas bot eine Überraschung. Als Hotel wurde uns das "Anauco Hilton" im Zentrum der Stadt genannt und anstandslos fuhr mich der Taxista auch zu dem großen Betonklotz. Doch das Wort "Hilton" war hier nirgends zu finden. Nur gegenüber stand groß "Caracas Hilton". Doch der Taxifahrer hatte nicht das Hotel verwechselt. Bis vor etwa zwei Monaten hieß dieser Ort tatsächlich "Hilton" und war ein Teil der internationalen Hotelkette. Doch das "Anauco Hilton" war und ist das Hotel, in dem die Regierung Venezuelas gern ausländische Gäste unterbringt, darunter auch die zahlreichen kubanischen Vertreter, die im Rahmen der engen Zusammenarbeit zwischen Cuba und Venezuela das Land bereisen. Im "Hilton" waren die Kubaner nicht gern gesehen. Immer wieder kam es zu Schikanen und langen Wartezeiten. Bis endlich die Regierung die Nase voll hatte und sich daran erinnerte, daß der große Gebäudekomplex "Parque Central" mit seinen Geschäften, Büros, Bars und eben auch dem Hotel Staatseigentum ist. Die "Hilton"-Kette verlor die Lizenz, die Mannschaft wurde ausgewechselt und das Haus bekam den Namen "Anauco Suites". Stolz erzählten mir die Beschäftigten, daß sie sich nun als Kooperative organisiert haben: "Wir sind jetzt unser eigener Chef!" Noch ist an vielen Punkten die fehlende Routine der von der kubanischen Tourismusgesellschaft Cubanacan beratenen Belegschaft zu spüren, doch der nächste Streich steht offenbar kurz bevor. Wir mir von mehreren Seiten bestätigt wurde, soll noch in diesem Jahr der große Bruder "Caracas Hilton" in eine Kooperative überführt werden. Die Begründung liefert die "Hilton"-Kette selbst, weil sie ihre hohen Steuerschulden nicht begleichen will.

Ein Vergleich drängt sich auf: Bis zur Revolution hieß das heutige "Habana Libre" in der kubanischen Hauptstadt "Havanna Hilton"…

Die Cooperativistas im "Anauco" werden von der Kooperativenvereinigung UNESSCOOBOL betreut, deren nationalen Koordinator Luis Hernández Oliveros ich in der Zentrale des neuen antiimperialistischen Gewerkschaftsverbandes UNT traf, zu dessen Leitung Oliveros gehört. Die UNT (Unión Nacional de Trabajadores) befindet sich derzeit mitten im Prozeß ihrer Gründung, nachdem der Dachverband CTV in den Augen vieler Gewerkschafter den Charakter einer Gewerkschaft verloren hat und zu einer politischen Oppositionsorganisation geworden ist, die nicht mehr für die Rechte der Arbeiter, sondern nur noch für den Sturz des Präsidenten Hugo Chávez eintritt. Rund 13 Prozent der venezolanischen Arbeiter sind der Gewerkschaft zufolge derzeit in der UNT organisiert, in Kürze sollen es 20 und mittelfristig mehr als 50 Prozent werden. Von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf ist die UNT bereits als die Vertreterin der venezolanischen Arbeiter anerkannt worden, wodurch die CTV ihren Sitz dort verloren hat. Auf der anderen Seite stößt die Form des Aufbaus der neuen Gewerkschaft auch auf Kritik. So scheiterten im Vorfeld des Gründungskongresses die Verhandlungen zwischen der UNT und der kommunistischen Gewerkschaftszentrale CUTV über einen Beitritt. Die CUTV lehnte es ab, ihre Dachorganisation aufzulösen, bevor ihre Branchen- und Regionalföderationen in die UNT aufgenommen worden sind. Die Kommunisten weisen darauf hin, daß in vielen Bundesstaaten Venezuelas und in vielen Industriezweigen noch keine Strukturen der neuen Gewerkschaft existieren und daß außerdem der "provisorische" Vorstand nicht gewählt worden ist. Dies soll der UNT zufolge erst bei einem Kongreß im November geschehen. Unter diesen Bedingungen hält die CUTV einen Beitritt kurzfristig für nicht möglich, was auch für andere kleine Gewerkschaftsverbände gilt.

Einig sind sich die Gewerkschafter aber darin, daß es sich bei den Ereignissen im Dezember vergangenen und Januar diesen Jahres nicht um einen Generalstreik, sondern um eine Massenaussperrung und eine gezielte Sabotage der Erdölindustrie gehandelt habe. Eduardo Piñate, Präsident der Lehrergewerkschaft SINAFUM und Mitglied der Nationalen Koordination der UNT, nennt den Streik der Opposition ein "Verbrechen am venezolanischen Volk" und unterstützt die Entlassung der an diesem Verbrechen beteiligten Angestellten des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA. "Dieser Streik war illegal, denn es gab keine Arbeiterversammlungen, keine demokratische Entscheidung über die Ausrufung des Generalstreiks. Ein Generalstreik muß wirtschaftliche Forderungen der Arbeiter zum Inhalt haben, doch darum ging es hier nicht. Es war eine von der Unternehmensspitze mit ihren Millionengehältern geleitete Aktion, die den Sturz der legitimen Regierung zum Ziel hatte. Es waren die Arbeiter, die den Erdölkonzern PDVSA wieder in Gang setzten." Nachdem ein Gericht den Ausstand für illegal erklärt hatte, gab die Regierung den Angestellten fünf Tage Zeit, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren, gesetzlich kann nach drei Tagen unentschuldigtem Fehlen die fristlose Kündigung ausgesprochen werden, doch die leitenden Angestellten bleiben wochenlang ihren Arbeitsplätzen fern.

"Im vergangenen November arbeiteten in der Konzernzentrale in Caracas 10.000 Menschen, jetzt sind es noch 2000", erläutert Aires Barreto, Vizepräsident von PDVSA, die Folgen der Sabotage im Konzern. Er bestreitet nicht, daß der Konzern die Entlassungen auch genutzt hat, um den Wasserkopf des Konzerns zu verkleinern. Die Entlassenen seien fast ausschließlich leitende Angestellte und Angehörige des Managements gewesen, kaum Arbeiter aus den Raffinerien, so Barreto. Unter der neuen Konzernleitung wolle PDVSA endlich eine Politik im Interesse des "wirklichen Eigentümers von PDVSA, dem venezolanischen Volk" machen. Dazu gehört auch, daß die Leitung von PDVSA und das zuständige Ministerium nun im selben Gebäude residieren, so daß direkte Kontakte öfter und unkomplizierter möglich sind.

Bislang galt PDVSA als ein Negativbeispiel für Bürokratie und Korruption. Nur 20 Prozent der Einnahmen flossen als Gewinn in die Kassen des Staates und konnten für soziale Aufgaben eingesetzt werden, 80 Prozent versickerten als Gehälter und in dunklen Kanälen. Die Hoffnung der Menschen ist nun, daß sich dies ändert und weitere Mittel für die soziale Arbeit der Regierung frei werden.

Diese Hoffnung teilen auch David Velasquez und Sonia Romero vom Zentralrat der Kommunistischen Jugend Venezuelas (JCV), die beide in der Koordination der Alphabetisierungskampagne "Mission Robinson" aktiv sind. David erläutert die Ziele dieser mit umfangreicher kubanischer Unterstützung durchgeführten Kampagne: "Wir haben in Venezuela insgesamt rund 1,5 Millionen Analphabeten, von diesen wollen wir im Rahmen der Mission Robinson mindestens eine Million alphabetisieren. Dieses Ziel werden wir übertreffen, nach dem derzeitigen Stand werden wir Ende Oktober 1,1 Millionen Menschen mit der Mission Robinson erreicht haben. Etwa 90 Prozent der Teilnehmer an den Alphabetisierungskursen bestehen den Kurs problemlos, die übrigen werden von ihren Lehrern besonders betreut." David räumt ein, daß es zu Beginn Schwierigkeiten mit bürokratischen Beamten des Bildungsministeriums gab, die aber durch das direkte Eingreifen des Präsidenten Chávez gelöst wurden.

"Wir beginnen jetzt mit der zweiten Stufe der Mission Robinson", berichtet er. Dabei geht es darum, daß die Massen zumindest eine Grundschulausbildung erhalten. Die Absolventen der ersten Stufe setzen den Unterricht in der zweiten Stufe meist in den gleichen Räumen fort, um innerhalb von zwei Jahren den Bildungsstand der sechsten Klasse zu erreichen. "Die Mission Robinson ist eine Sofortmaßnahme. Der Aufbau eines neuen Bildungssystems in Venezuela dauert länger. Auch die mehreren Tausend Bolivarianischen Schulen, die in den vergangenen Jahren aufgebaut wurden, reichen nicht aus." David informiert über interessante Ergebnisse der Kampagne, die so nicht erwartet wurden: "Wir sind mit der Mission Robinson in Gegenden gekommen, wo man noch nie vom Präsidenten Chávez gehört hatte. Insgesamt rund 70 Prozent der Teilnehmer an den Kursen besaßen bislang keinen Personalausweis, standen also auch nicht in den Wahlregistern und haben noch nie gewählt." Das sei vor allem angesichts der bevorstehenden Wahlen wichtig: "2004 werden die Gouverneure und Bürgermeister neu gewählt, im Jahr 2005 steht die Neuwahl der Abgeordneten der Nationalversammlung an und im Jahr 2006 steht Präsident Chávez zur Wiederwahl. Das heißt: in den nächsten Jahren folgt eine Wahl auf die andere."

Im Gespräch berichteten David und Sonia, daß sich Venezuela offiziell um die Ausrichtung der nächsten Weltfestspiele der Jugend und Studenten beworben hat. Die endgültige Entscheidung darüber wird im Februar 2004 bei der Vollversammlung des Weltbundes der Demokratischen Jugend (WBDJ) fallen. "Wir konnten diesen Vorschlag bei der letzten Vollversammlung im Februar noch nicht machen, weil die Unterstützung durch den Staat noch nicht gesichert war. Jetzt hat sich aber Präsident Chávez für die Weltfestspiele ausgesprochen und volle Unterstützung zugesagt, so daß der Kongreß der JCV die offizielle Bewerbung um die Weltfestspiele beschlossen hat. Auch die kubanische Jugendverband und die lateinamerikanischen Verbände des WBDJ unterstützen unsere Bewerbung." Wenn der WBDJ den Vorschlag annimmt, soll das Festival wohl im August 2005 in Caracas stattfinden.

"Im nächsten Juni wird es niemanden mehr in Caracas geben, den die sozialen Programme der Regierung noch nicht erreicht haben. Das gilt besonders für das Programm Barrio Adentro" ("Im Inneren des Viertels"), sagte Freddy Bernal, Bürgermeister des Regierungsbezirks El Libertador, der den Kern der Hauptstadt Caracas umfaßt. "Barrio Adentro" ist neben der Mission Robinson das Flaggschiff der Bolivarianischen Revolution. Allein in El Libertador arbeiten im Rahmen dieses Programms derzeit 627 kubanische Ärzte, die bereits 455.000 Patienten betreut haben. Koordiniert werden sie von Dr. Victor Felipe, der über den Empfang der Ärzte durch die Bevölkerung berichtete: "Die Menschen sind begeistert. 80 Prozent von ihnen waren zuvor noch nie bei einem Arzt, weil das Krankenhaus zu weit entfernt ist oder sie dort abgewiesen wurden. Viele stellten spontan einen Raum in ihrem Haus für den Arzt zur Verfügung. Deshalb ist unsere Arbeit hier auch nicht nur Solidarität, wir lernen auch von den venezolanischen Kultur, denn wir leben in der Gemeinschaft und teilen mit den Menschen hier den Alltag und ihre Aktivitäten." Freddy Bernal führte eine weitere Statistik an, die den Erfolg von "Barrio Adentro" belegt: "470 Venezolaner wären ohne die medizinische Hilfe der kubanischen Ärzte gestorben. Allein das rechtfertigt bereits das Programm." Er erinnerte daran, daß im Rahmen einer kubanisch-venezolanischen Vereinbarung bereits mehr als 4500 Menschen aus Venezuela zur Behandlung nach Cuba geflogen wurden, wofür Cuba der venezolanischen Regierung nichts berechnet. Im Rahmen des Programms "Barrio Adentro" lieferte Cuba außerdem unentgeltlich mehr als 32 Tonnen Medikamente an Venezuela und hat nun den Bau eines kompletten Krankenhauses im Barrio El Valle in Angriff genommen.

Artikel vom 28. September 2003