Ein Tempel für die Revolution

Diesen Besuch ließ sich Nicolás Maduro nicht nehmen: Als er sich am vergangenen Dienstag in Caracas offiziell als Kandidat für die Präsidentschaftswahl am 22. April einschrieb, machte er auf dem Weg zum Nationalen Wahlrat (CNE) Station in der ehemaligen Bergkaserne. Es war ein Besuch bei seinem Vorgänger, denn in dem Anfang des 20. Jahrhunderts errichteten Gebäude ist der Leichnam des am 5. März 2013 verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez aufgebahrt. Gemeinsam mit seinen engsten Beratern hielt Maduro an dem Sarkophag aus Marmor inne, die Hände auf die schwere Platte gelegt.

Die Bergkaserne, die seit 1981 als Militärhistorisches Museum dient, hat für die revolutionäre Bewegung Venezuelas eine besondere Bedeutung: Am 4. Februar 1992 richtete Chávez dort seinen Befehlsstand ein, als sich von ihm geführte Militärs gegen die Regierung des Sozialdemokraten Carlos Andrés Pérez erhoben. Die Rebellion scheiterte, doch der Aufstand machte den Comandante in der Bevölkerung populär. Fast auf den Tag genau sieben Jahre später, am 2. Februar 1999, wurde Chávez als Präsident Venezuelas vereidigt, nachdem er die Wahlen am 6. Dezember 1998 gewonnen hatte.

An den Aufstand von 1992 erinnert ein großes rotes »4 F« auf dem Dach der Kaserne, das von fast überall in Caracas zu sehen ist, wenn einem nicht Hochhäuser den Blick verstellen. Wer den Ort besuchen will, fährt zunächst durch das für seine kämpferischen Traditionen bekannte Viertel »23 de Enero«, vorbei an zahlreichen Wandbildern zur Unterstützung des revolutionären Prozesses. Am Eingang erinnert eine ewige Flamme an »das Morgenrot einer Hoffnung«. Hinter den schweren Eisentoren wird der Besucher von Milizionären begrüßt, die als Führer dienen. Sie erklären freundlich und geduldig die Geschichte des Gebäudes und Venezuelas – und passen ganz nebenbei auf, dass sich alle dem Ort angemessen verhalten.

Vor der Seite des Gebäudes, die der Stadt zugewandt ist, wehen die Fahnen der Staaten Lateinamerikas. Daneben ist eine alte Kanone auf die Stadt gerichtet. Täglich um 16.25 Uhr wird sie auch heute noch abgefeuert – zum Zeitpunkt des Todes von Hugo Chávez. Einige Schritte weiter befindet sich der Eingang zum Mausoleum. Wer durch den Torbogen in den hellen Innenhof schreitet, sieht in dessen Mittelpunkt auf einer künstlichen Insel in Form einer Blume den Sarkophag. Links und rechts stehen bewegungslos vier Soldaten in historischen Uniformen, den Säbel gezogen und zum Boden gerichtet. Die Besucher umrunden den Block, viele berühren den kalten Stein. Es herrscht feierliche Stille, Film- und Fotoaufnahmen sind nicht erwünscht.

In einem Seitenflügel befindet sich eine Kapelle mit einem kleinen Altar. Zwischen den großen, bogenförmigen Fenstern hängen Fotos von Hugo Chávez beim Gebet oder mit dem Kreuz in der Hand. Der Präsident war ein gläubiger Katholik – aber hier wird er selbst zum Ziel religiöser Verehrung.

Die übrigen Räume dienen als Museum. Zu sehen sind Szenen aus dem Leben des Comandante. Nachgebildet sind Wohnräume und Klassenzimmer, wie er sie in seiner Kindheit und Jugend in Barinas erlebt haben dürfte. Dazu gibt es Informationen über die politischen und kulturellen Ereignisse der jeweiligen Epoche. Unzählige Fotos dokumentieren die Entwicklung Chávez’ vom jungen Süßigkeitenverkäufer in Sabaneta über seine Laufbahn im Militär bis zur Zeit als Präsident.

Wer Glück hat, erlebt den alle paar Stunden stattfindenden Wachwechsel. Im Paradeschritt zieht dann die Ablösung auf, ebenfalls in historischen Uniformen und mit gezogenem Säbel. Begleitet von lauten Kommandos beziehen vier Soldaten Stellung neben ihren Kameraden. Der Kommandeur proklamiert »Chávez lebt«, und seine Untergebenen antworten »Der Kampf geht weiter!« Nach einer Trompetenfanfare übernimmt die Ablösung dann den Platz ihrer Kameraden, die im Paradeschritt aus dem Hof marschieren. Dann herrscht wieder Stille.

Erschienen am 5. März 2018 in der Tageszeitung junge Welt