Ein Putschist will Staatschef werden

Am 7. Oktober finden in Venezuela Präsidentschaftswahlen statt und wenn die derzeit regelmäßig veröffentlichten Umfragen nicht völlig falsch sind, wird der nächste Staatschef der alte sein. Hugo Chávez liegt derzeit in den meisten Prognosen rund 30 Prozentpunkte vor seinem Herausforderer von der Opposition, Henrique Capriles Radonski. Damit scheint die Rechnung der Regierungsgegner nicht aufgegangen zu sein, durch mit großem Aufwand organisierte Vorwahlen zwischen verschiedenen Repräsentanten ihres Lagers einen Stimmungsumschwung zu erreichen. In internen Dokumenten räumt das Oppositionsbündnis deshalb bereits ein, dass es dem Kandidaten nicht gelinge, die Unterstützung des Volkes zu mobilisieren. Henrique Salas Römer, der Chávez bei der Präsidentschaftswahl 1998 unterlegen war, sagte bei einem privaten Treffen bereits, Capriles werde „nicht einmal mit Hefe aufgehen“.

Teile der Opposition scheinen deshalb erneut auf terroristische Methoden zurückgreifen zu wollen. Im März warnte Präsident Chávez öffentlich, dem Geheimdienst SEBIN lägen Informationen vor, wonach ein Anschlag auf Capriles Radonski vorbereitet werde. Urheber seien nicht etwa radikale Regierungsanhänger, sondern Oppositionelle, die nicht an die Möglichkeit eines Wahlsieges glaubten. Sie wollten durch das Attentat auf den Kandidaten Unruhen provozieren, die dann einen „humanitären“ Militäreinsatz der USA auslösen könnten. Während das Oppositionsbündnis MUD (Tisch der demokratischen Einheit) die Erklärung des Präsidenten empört zurückwies, erinnerte der Internationale Sekretär der Kommunistischen Partei Venezuelas, Carolus Wimmer, daran, dass ein solches Vorgehen keine Premiere wäre: „Die Gringos haben in der Vergangenheit viele Personen mit einer Kugel aus dem Weg geräumt, die ihren Plänen unbequem geworden waren, oder um die für eine Intervention notwendige Gewalt zu schüren.“ Durch einen solchen Mordanschlag könne eine Situation provoziert werden, wie sie der Imperialismus in Libyen oder Syrien geschaffen habe, warnt Wimmer, der Venezuela im Lateinamerikanischen Parlament vertritt.

Bereits Anfang März war es bei einer Wahlkampfkundgebung der Opposition in einem Viertel von Caracas zu gewaltsamen Ausschreitungen gekommen. Anhänger der von Chávez geführten Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) hatten gegen einen „Rundgang“ des Oppositionskandidaten provoziert. Dessen Personenschutz ging rabiat gegen die Gegendemonstranten vor, auch Schüsse fielen. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass Henrique Capriles in Zivil gekleidete und bewaffnete Beamte der Regionalpolizei aus dem von ihm regierten Bundesstaat Miranda als Leibwächter engagiert hatte. Die für die Aktion zuständigen Behörden der Hauptstadt waren demgegenüber nicht von den Plänen der Opposition informiert gewesen. Innenminister Tarek El Aissami warf den Regierungsgegnern deshalb erneut vor, eine „Agenda der Gewalt“ zu verfolgen, um Unruhen zu schüren. Erfahrungen mit solchen Kampagnen hat die Opposition. In diesen Tagen jährt sich zum zehnten Mal der Putschversuch von Militärs, Unternehmerverband und korrupten Gewerkschaftsfunktionären. Am 9. April 2002 hatten der Unternehmerverband Fedecámaras, der traditionelle sozialdemokratische Gewerkschaftsbund CTV sowie die Oppositionsparteien zu einem Generalstreik aufgerufen, dessen kaum verhülltes Ziel der Rücktritt des Präsidenten war. Die Beteiligung an dem Ausstand war gering, befolgt wurde er in erster Linie in den Vierteln der Mittel- und Oberschicht im Osten von Caracas. In den anderen Teilen des Landes verlief das Leben hingegen weitgehend normal. Das Wirtschaftsministerium schätzte, dass sich etwa 70 Prozent der Unternehmen nicht am Streik beteiligten. Trotzdem setzten die Regierungsgegner ihre Aktionen fort, die immer öfter in Gewalt umschlugen.

Als den entscheidenden Tag hatte die Opposition den 11. April gewählt und zu einer Großdemonstration aufgerufen. Offiziell sollte der Zug zum Sitz des staatlichen Erdölkonzerns PdVSA ziehen, doch schon am Vorabend hatten Oppositionszeitungen die Parole ausgegeben, „die entscheidende Schlacht“ finde am Präsidentenpalast Miraflores statt. Die etwa 50 000 Teilnehmer zählende Demonstration wurde „spontan“ zum Regierungssitz umgelenkt. Dort jedoch hatten sich Zehntausende Unterstützer der Regierung versammelt, um unter der Losung „¡No pasarán!“ – „Sie werden nicht durchkommen!“ – die Regierung gegen die von ihnen bereits als Putschversuch bewertete Kampagne der Opposition zu verteidigen. Plötzlich fielen Schüsse. 13 Menschen wurden getötet, über 100 verletzt.

Die von der Opposition kontrollierten Fernsehsender meldeten umgehend, Regierungsanhänger hätten auf die „unbewaffnete Demonstration“ der Opposition geschossen. Über die Privatsender wurde ein Video ausgestrahlt, in dem hohe Offiziere dem Präsidenten und der Regierung den Gehorsam aufkündigten. Später stellte sich heraus, dass dieses Video schon Stunden vor den ersten Zwischenfällen aufgezeichnet worden war. Trotzdem sprachen die Militärs bereits von „zahlreichen Toten“. Die Schüsse waren von Angehörigen der von der Opposition kontrollierten Hauptstadtpolizei Policía Metropolitana und Heckenschützen abgegeben worden. Tatsächlich waren die Toten des 11. April in ihrer Mehrzahl Unterstützer des Präsidenten. Heute erinnert ein kleines Denkmal auf der Brücke Puente Llaguno an sie. Es war eine gezielte Provokation, die ihren Zweck zu erfüllen schien. Das Militär umstellte den Regierungspalast, forderte den Rücktritt von Chávez und drohte, Miraflores zu bombardieren. Um ein Blutbad zu verhindern, begab sich der Staatschef in die Hände der Putschisten. Die Offiziere verschleppten ihn und verkündeten, Chávez sei zurückgetreten. Zum „Übergangspräsidenten“ ernannten die Putschisten entgegen aller Bestimmungen der Verfassung den Chef des Unternehmerverbandes Fedecámaras, Pedro Carmona. Mehrere Minister der legitimen Regierung wurden verhaftet, Häuser von Mitgliedern linker Parteien durchsucht. Das staatliche Fernsehen VTV wurde abgeschaltet.

Mutig trat der damalige Generalstaatsanwalt Isaías Rodríguez gegen die Lügen der Putschisten auf. Unter dem Vorwand, er wolle zurücktreten, gelang es ihm, eine Ansprache zu halten, die von mehreren Privatstationen direkt übertragen wurde. Dort konnte er die Lüge vom Rücktritt des Präsidenten zurückweisen und auf die Regelungen der Verfassung verweisen, wonach im Falle einer Demission der Vizepräsident oder der Parlamentspräsident die Amtsnachfolge antreten müssten.

Die Putschisten hatten jedoch eines nicht bedacht: Das Volk nahm den Sturz des Präsidenten nicht hin. Nach einer ersten Schockstarre begannen am Abend des 12. April vor allem in den armen Vierteln von Caracas die Proteste. Stunden später brannten Barrikaden, wurden Straßen und Kreuzungen blockiert. Tausende Menschen versammelten sich vor den Zentralen der privaten Fernsehsender, vor den Kasernen und am Präsidentenpalast. Die den Putschisten ergebenen Polizeieinheiten eröffneten das Feuer. Schätzungen zufolge wurden mindestens 40 Menschen erschossen. In Maracay jedoch begann das dort stationierte Fallschirmjägerbataillon gegen die Putschisten zu rebellieren. Im Präsidentenpalast besetzte die aus loyalen jungen Soldaten bestehende Ehrengarde des Präsidenten den Palast und nahm eine Reihe von Putschisten fest. Die Minister der gestürzten Regierung kehrten nach Miraflores zurück und begannen, die Rückeroberung der demokratischen Macht zu koordinieren. Angehörige des Fallschirmjägerbataillons befreiten Chávez aus der Gefangenschaft und brachten ihn zurück nach Caracas. Im Triumph landete er am 14. April kurz vor 3 Uhr morgens auf dem Landeplatz des Präsidentenpalastes. Mit geballter Faust grüßte er die Massen und rief zur Ruhe und Versöhnung auf. Mehr als eine Million Menschen feierten in den Straßen von Caracas den Sieg.

Bis heute hat die Opposition die damaligen Ereignisse nicht aufgearbeitet. Capriles Radonski bestreitet sogar, irgendwie an dem Putsch beteiligt gewesen zu sein. Dabei war er führend dabei, als während der kurzen Herrschaft der Putschisten ein aufgeheizter Mob versuchte, die kubanische Botschaft zu stürmen. Er wurde wegen der Verletzung internationaler diplomatischer Abkommen angeklagt, später jedoch freigesprochen. Ein böses Wort über den damaligen Versuch, einen demokratisch gewählten Präsidenten zu stürzen, war jedoch bis heute nicht von ihm zu hören.

Erschienen am 6. April 2012 in der Wochenzeitung UZ – Unsere Zeit