Ein Foto schreckt die Öffentlichkeit auf

Das Bild geht um die Welt: Ein kleiner Junge liegt tot an einem Strand in der Türkei. Zahlreiche Medien zeigten die Aufnahme oder brachten das Foto, auf dem ein Polizist den Körper wegträgt. »Gewöhnlich ist ein Leichnam ein stummes, unansehnliches Ding. Es gibt aber Leichen, die lauter reden als Posaunen und heller leuchten als Fackeln.« Diese Worte schrieb Rosa Luxemburg vor 103 Jahren in einem Artikel für die sozialdemokratische Zeitung Die Gleichheit. Am Donnerstag griffen zahlreiche Menschen diese Worte auf und kommentierten damit im Internet das Foto des dreijährigen Aylan Kurdi, der zwar die Flucht aus der von den IS-Terroristen attackierten und belagerten Stadt Kobani überlebte, nicht aber die Fahrt nach Europa. Auch sein fünf Jahre alter Bruder und seine Mutter starben, sein Vater überlebte schwerverletzt. Ihr Boot war auf dem Weg von der Türkei zur griechischen Insel Kos untergegangen, mindestens zwölf Menschen kamen dabei ums Leben – zwölf von insgesamt 2.600 Menschen, die allein in diesem Jahr die Flucht über das Mittelmeer nicht überlebt haben.

Es ist die Stunde der Heuchler. Bild, das seit Jahrzehnten gegen Flüchtlinge, Minderheiten und Schwächere hetzt, räumte die komplette letzte Seite der Ausgabe vom Donnerstag frei, um das Foto umgeben von einem schwarzen Kasten abzudrucken: »Bilder wie dieses sind schändlich alltäglich geworden. Wir ertragen sie nicht mehr, aber wir wollen, wir müssen sie zeigen, denn sie dokumentieren das historische Versagen unserer Zivilisation in dieser Flüchtlingskrise.« Frankreichs Ministerpräsident Manuel Valls, dessen Polizei in Calais mit Hunden Jagd auf Flüchtlinge macht, schrieb auf Twitter: »Er hatte einen Namen: Aylan. Wir müssen dringend etwas tun.«

Die Organisation Human Rights Watch (HRW) verteidigt die Veröffentlichung des Fotos. »Einige sagen, das Foto sei zu anstößig, um es online zu teilen oder in unseren Zeitungen abzudrucken, aber ich finde es vielmehr anstößig, dass an unseren Küsten ertrunkene Kinder angespült werden, wenn wir mehr hätten tun können, um ihren Tod zu verhindern«, erklärte der für Kriseneinsätze zuständige Direktor der in den USA beheimateten Organisation, Peter Bouckaert, am Donnerstag. Es sei falsch, die Eltern dafür zu verurteilen, dass sie ihre Kinder auf der Flucht einer so großen Gefahr aussetzten. Es sei vielmehr verständlich, wenn die Eltern versuchten, ihre Kinder an einen sicheren Ort zu bringen. »Diese Eltern sind Helden«, stellte Bouckaert fest.

Die Ursachen für das sich täglich ausweitende Drama benennt jedoch auch Bouckaert nicht, etwa das Anheizen des Krieges in Syrien auch durch EU- und NATO-Staaten, die Zerstörung Libyens durch die Bombenangriffe 2011, das Ausblutenlassen ganzer Länder durch die Ausplünderung ihrer Ressourcen durch europäische und US-amerikanische Konzerne. Rosa Luxemburg schließt ihren eingangs zitierten Artikel, dessen Anlass eine Reihe von Todesfällen in einem Berliner Obdachlosenasyl war, mit der Forderung: »Nieder mit der infamen Gesellschaftsordnung, die solche Greuel gebiert!«

Erschienen am 4. September 2015 in der Tageszeitung junge Welt