Ein Erfolg für die Bolivarische Revolution

Die Bolivarische Revolution hat sich wieder gefangen und repräsentiert auch zehn Jahre nach dem Amtsantritt des Präsidenten Hugo Chávez die Mehrheit der Bevölkerung in Venezuela. Das dürfte das wichtigste Ergebnis der Volksabstimmung am 15. Februar gewesen sein.

Formell ging es um eine zunächst relativ unbedeutende Veränderung von fünf Artikeln der venezolanischen Verfassung. Durch diese Änderung wurde eine Beschränkung aufgehoben, die es den Inhabern der verschiedenen durch Wahlen vergebenen Ämter untersagte, sich mehr als einmal zur Wiederwahl aufstellen zu lassen. Konkret ging es natürlich vor allem um den Präsidenten der Republik, Hugo Chávez Frías, der nach der bislang geltenden Regelung bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2012 nicht mehr hätte antreten dürfen. Mit zehn Prozentpunkten bzw. einer Million Stimmen Vorsprung fiel das Ergebnis eindeutig aus und kann – da sowohl Unterstützer als auch Gegner der Änderung die Person des Präsidenten in den Mittelpunkt ihrer Propaganda gestellt hatten – durchaus als Abstimmung über Chávez interpretiert werden.

Bei einer Wahlbeteiligung von 70 Prozent stimmten knapp 55 Prozent für die Verfassungsänderung,  45 Prozent dagegen – ein Vorsprung von zehn Prozentpunkten oder, in absoluten Zahlen, von mehr als einer Million Stimmen.

Dieser Wahlerfolg, der je nach Rechnung der 13. oder 14. Erfolg des Regierungslagers in 15 Abstimmungen seit 1999 gewesen ist, war vor allem auch psychologisch wichtig, denn die vorigen 15 Monate waren für die bolivarische Bewegung nicht einfach. Im Dezember 2007 unterlag sie knapp beim Referendum über eine umfangreiche Verfassungsreform. Bei den Regionalwahlen im November 2008 wurde die von Hugo Chávez gegründete Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) zwar mit Abstand stärkste Partei, aber in wirtschaftlich und vor allem auch symbolisch wichtigen Bundesstaaten wie Miranda, Carabobo, Táchira und anderen sowie vor allem in der Hauptstadt Caracas konnte die Opposition mit ihren Kandidaten gewinnen und den bolivarischen Kandidaten Niederlagen beibringen, so dass die Siegeshymnen der PSUV nach dieser Abstimmung ein wenig nach dem sprichwörtlichen Pfeifen im Walde klangen.

Nach der jüngsten Abstimmung ist der Weg hingegen wieder frei, damit sich die bolivarische Bewegung auf eine Vertiefung der Revolution konzentrieren kann. Darauf spielte Chávez bereits an, als er unmittelbar nach der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses eine neue Etappe des Prozesses ankündigte: „Mit diesem Sieg beginnt heute die dritte historische Phase der Bolivarischen Revolution, von 2009 bis 2019. (…) Der Weg ist der Weg der Würde des Mannes, der Würde der Frau, der Würde des Volkes, und dieser Weg hat keinen anderen Namen, dieser Weg heißt Sozialismus. Ich möchte meine Verpflichtung zum venezolanischen Sozialismus unterstreichen und alle einladen, den Marsch zum Aufbau des wirklichen Sozialismus, der sozialistischen Revolution, der sozialistischen Demokratie zu verstärken.“

Ein interessanter Aspekt des sich in solchen Äußerungen abzeichnenden Zeitrahmens ist, dass er kein spontaner Einfall des Präsidenten ist. Bereits Anfang der 90er Jahre formulierte Chávez in einer als „Das blaue Buch“ bekannt gewordenen Schrift eine heute überraschend realistisch klingende Einschätzung des zum Erreichen der Ziele des revolutionären Projektes benötigten Zeitraums: „Das Nationale Projekt Simón Bolívar schlägt die Festlegung eines Zeithorizonts von maximal zwanzig Jahren vor, gerechnet ab dem Beginn der Aktivitäten zur Veränderung der ursprünglichen Situation, damit die Akteure und Handlungen sich in die objektive Situation einfinden.“

Auf die Notwendigkeit einer längerfristigen Planung wies auch Chávez am Tag der Abstimmung noch einmal hin: „Venezuela und den Völkern Lateinamerikas haben sie ein System der Regierungsrotation aufgezwungen, das so ein hohes Tempo aufweist, dass das Entstehen eines nationalen langfristigen Projekts unmöglich ist. Jetzt haben wir in Venezuela diese Schranken eingerissen, hier werden wir gemeinsam langfristig das mächtige Venezuela aufbauen.“

Als Hugo Chávez vor zehn Jahren, im Februar 1999, die Regierungsgeschäfte in Venezuela übernahm und seinen Amtseid auf die „dem Tod geweihte Verfassung“ ablegte, hatte dies in Europa nur wenig Aufsehen erregt. Die wenigen Analysen aus der damaligen Zeit, die kaum über ein akademisches Spektrum hinaus kamen, verglichen Chávez mit dem peruanischen Präsidenten Fujimori, der während seiner Amtszeit alle Strukturen ausgeschaltet und einen „Selbstputsch“ durchgeführt hatte. Seiner politischen Richtung wurde eine „Ideologielosigkeit aus Prinzip“ unterstellt.

Diese Wahrnehmung wurde zunächst dadurch begünstigt, dass sich Chávez‘ Diskurs gegen eine einfache Einordnung in klassische Muster oder Schubladen sperrte. Der von ihm vertretene „Bolivarianismus“ entsprach weder klassisch linken noch bürgerlichen oder rechten Klischees und Denkmodellen. Das war von Chávez teilweise durchaus gewollt, denn es musste darum gehen, eine breite Bewegung aufzubauen, die sich gegen das vier Jahrzehnte herrschende System der Zwei-Parteien-Herrschaft in Venezuela durchsetzen konnte. Zugleich entsprach die unklare Ideologie des frühen Bolivarianismus chavistischer Prägung aber auch dem Entwicklungsstand von Hugo Chávez selbst. Es gibt kaum einen Zweifel daran, dass Chávez es ernst damit meinte, sein Land von der Herrschaft einer korrupten Elite zu befreien, die sich Macht und Reichtum des Landes untereinander aufteilte, während die große Mehrheit der Bevölkerung in Armut lebte. Darüber aber, wie diese Befreiung vor sich gehen könnte, und vor allem darüber, was nach der Übernahme der Macht durch die bolivarianische Bewegung zu geschehen habe, gab es zunächst über unmittelbar tagespolitische Forderungen hinaus kaum eine greifbare Vision.

Vor diesem Hintergrund wird die theoretisch-ideologische Entwicklung von Hugo Chávez nachvollziehbar. Obwohl Chávez und seine Partei – zunächst die Bewegung Fünfte Republik (MVR), heute die PSUV – neben den Ideen der Helden des Kampfes um die Unabhängigkeit Venezuelas und christlichen Überzeugungen auch den Marxismus immer als eine Quelle ihrer theoretischen Entwicklung anerkannt haben, sprach Chávez zu Beginn seiner Amtszeit noch von einem „dritten Weg“ zwischen wildem Kapitalismus und Kommunismus, den es zu beschreiten gelte, und nannte ausgerechnet den britischen Premierminister Blair als ein Vorbild.  

Es waren vor allem tagespolitische Herausforderungen, die jeweils zu einer – zunächst vor allem verbalen – Radikalisierung des bolivarianischen Prozesses führten. So klingt es heute einigermaßen absurd, wie sich Chávez Anfang 2001 über den damals neuen US-Präsidenten George W. Bush im Vergleich zu dessen Amtsvorgänger Clinton äußerte: „Ich glaube, in Washington sind sie davon überzeugt, ebenso wie wir hier, dass es notwendig ist, gute Beziehungen aufrecht zu erhalten. (…) Wir haben in ihren Erklärungen sehr große Behutsamkeit gesehen, es gab nicht eine einzige barsche Erklärung gegen uns, wie wir sie zuvor erleben mussten, dass Venezuela die Demokratie respektieren müsse, dass es hier das Risiko einer Diktatur gäbe, all diese Erklärungen hoher Beamter, die vielleicht nicht persönlich den Präsidenten Clinton repräsentierten, aber hochrangige Regierungsmitglieder waren. Im Gegensatz dazu herrscht heute die Behutsamkeit vor, wir haben jetzt viele Kontakte auf verschiedenen Ebenen…“

Vor allem nach dem 11. September 2001 und dem „Krieg gegen den Terror“ verschlechterten sich die Beziehungen zwischen Venezuela und den USA jedoch zusehends. Die Verwicklung Washingtons in den Putschversuch vom April 2002 und in die Erdölsabotage Ende 2002 und Anfang 2003 kann als erwiesen gelten. Aber erst ab etwa 2004 begann Chávez vom Imperialismus zu sprechen und rief die „antiimperialistische Phase“ der Revolution aus, nachdem eine Gruppe von 150 Paramilitärs ausgehoben worden war, die Anschläge auf die Regierung geplant hatten.

Es dauerte sogar bis Januar 2005, bis Chávez zum ersten Mal das Wort „Sozialismus“ in den Mund nahm, und zwar zunächst noch ganz vorsichtig und wohl kaum zufällig nicht in Caracas, sondern im Rahmen des Weltsozialforums in Porto Alegre: „Ich bin jeden Tag mehr der Überzeugung, dass es notwendig ist, den Kapitalismus zu überwinden. Aber ich füge hinzu: Den Kapitalismus kann man nicht innerhalb des Kapitalismus überwinden. Nein, der Kapitalismus muss auf dem Weg des Sozialismus überwunden werden.“

Dieser lange Atem des Comandante Chávez und seiner Regierung in strategischen Grundfragen kontrastiert in anderen Fragen mit einem kurzatmigen Taktieren, bei dem es offenbar nur oder vor allem um kurzfristig quantifizierbare Ergebnisse geht und nicht um das Legen langfristiger Grundlagen. Das zeigt sich beispielsweise in der oft nur kurzen Verweildauer von Ministern in ihren Ämtern, die teilweise schon nach wenigen Monaten wieder abberufen werden. Deutlich wurde diese Hektik in Tagesfragen auch in der vermurksten Verfassungsreform, die im Dezember 2007 in einem Referendum knapp abgelehnt wurde. In dem ursprünglichen, von Präsident Chávez vorgelegten Entwurf der Verfassungsreform waren wichtige und tiefgreifende Veränderungen wie die Etablierung eines Rätesystems parallel zu den althergebrachten Staatsstrukturen oder die Festschreibung des Aufbaus des Sozialismus in der Verfassung enthalten. Die Nationalversammung fügte jedoch noch eigene Ideen hinzu, die damit nichts mehr zu tun hatten, so eine als Einschränkung der demokratischen Rechte verstandene Erhöhung der Zahl von Unterschriften, die für die Einreichung von Referenden notwendig sind, oder eine Verschärfung der Regeln für den Ausnahmezustand. Solche überflüssigen und der basisdemokratischen Intention des Präsidentenentwurfs widersprechenden Initiativen dürften zu den wichtigsten Gründen dafür gehört haben, dass Millionen von Chávez-Anhängern am Tag des Referendums zu Hause blieben und dadurch der Opposition zum ersten Mal seit 1998 einen Abstimmungserfolg ermöglichten.

Aus dieser Niederlage haben die revolutionäre Bewegung und Hugo Chávez die Lehren gezogen. Bei der Kampagne um die Verfassungsänderung wurde darauf geachtet, den Gegnern nicht unnötig Argumente zu liefern. So war ursprünglich vorgesehen, nur die Möglichkeit der Wiederwahl des Präsidenten einzuführen. Als dies zum Gegenstand der Kritik von verbündeten Parteien wie der  PPT (Heimatland für alle) wurde und auch die Opposition darin eine Chance witterte, ergriff Chávez selbst die Initiative und forderte eine Ausweitung der Wiederwahlmöglichkeit auf alle durch Wahlen vergebenen Ämter.

Entscheidend für den Erfolg des Referendums war zugleich die Basismobilisierung. Am Beginn der Kampagne für die Verfassungsänderung stand eine groß angelegte Unterschriftensammlung, bei der Millionen von Venezolanerinnen und Venezolanern mit ihrem Namenszug ihre Unterstützung für das Projekt bekundeten. Durch die Sammlung war der Grundstein für die Mobilisierung Hunderttausender von Chávez-Anhängern gelegt, die während der heißen Phase des Wahlkampfes tatsächlich, wie vom Präsidenten gefordert, von Haus zu Haus und von Tür zu Tür zogen, um die Nachbarn vom Sinn der Verfassungsänderung zu überzeugen. Auch Chávez selbst konzentrierte sich auf die Kampagne und ging nicht, wie im Vorfeld des Referendums vom Dezember 2007, auf wochenlange Auslandsreisen. Da er auf Anordnung der obersten Wahlbehörde, dem Nationalen Wahlrat (CNE) während der Kampagne seine wöchentliche Fernsehsendung „Aló Presidente“ nicht ausstrahlen durfte, ging er unter die Leitartikler und schrieb zunächst elf Kolumnen unter dem Titel „Die Zeilen von Chávez“. Diese jeweils zunächst dreimal wöchentlich von zahlreichen regionalen und landesweiten Tageszeitungen veröffentlichten Kolumnen haben sich als so erfolgreich herausgestellt, dass sie nun wöchentlich fortgesetzt werden.

Zu den ersten Gratulanten nach dem Erfolg im Referendum gehörte der französische Präsident Sarkozy. In einem Brief an seinen venezolanischen Amtskollegen schrieb er mit Datum vom 17. Februar: „Ich weiß, welche Rolle Sie in diesem Wahlkampf gespielt haben. Ich hoffe, dass diese Ergebnisse es ermöglichen, mit den Anstrengungen fortzufahren, die Sie seit mehr als zehn Jahren insbesondere zugunsten von mehr sozialer Gerechtigkeit und zur Reduzierung der Ungleichheit in Ihrem Land ergriffen haben. Ebenso möchte ich mich dafür aussprechen, dass der intensive Dialog, den wir gehabt haben und für den Ihre zwei Besuche in Paris im November 2007 und im September 2008 sowie die im Rahmen des zweiten französisch-venezolanischen Treffens auf hoher Ebene im vergangenen Oktober unterzeichneten zehn Abkommen stehen, sich in Zukunft weiter bereichert und entwickelt.“

Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, die Hintergründe dieser konstruktiven Haltung der französischen Regierung zu analysieren, die vor allem auch auffällig mit der vorherrschenden Ignoranz der deutschen Bundesregierung kontrastiert. Aber auch in Berlin werden sich die Damen und Herren wohl darauf einstellen müssen, dass sie Hugo Chávez und die Bewegung, die er repräsentiert, nicht so schnell los werden.

Erschienen im April 2009 in der Zeitschrift Marxistische Blätter