Differenzierte Bilanz

Venezuelas rechte Opposition und viele Mainstreammedien haben am Wochenende entsetzt auf die Ergebnisse des dreitägigen Besuchs von Michelle Bachelet in Venezuela reagiert. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte habe »den Horror normalisiert«, behauptete der Journalist Héctor Schamis im argentinischen Internetportal Infobae. Die venezolanische digitale Tageszeitung El Nacional zitierte die spanische Politikerin Beatriz Becerra, die Vizechefin der Menschenrechtskommission des EU-Parlaments ist, mit den Worten, Bachelet sei nach Venezuela gekommen, »um die Tyrannei reinzuwaschen«. Und der Chef der in den USA beheimateten Organisation Human Rights Watch, José Miguel Vivanco, nannte den Besuch ebenfalls »ideal für die Tyrannei«.

Der Grund für die Aufregung ist, dass Bachelet am Freitag abend (Ortszeit) zum Abschluss ihres Besuchs eine differenzierte Bilanz gezogen hatte. Die frühere chilenische Präsidentin erklärte, sie habe mit vielen Opfern von Menschenrechtsverletzungen sprechen können. Angehörige von Inhaftierten hätten dabei über Misshandlungen berichtet und sie gebeten, sich für die Gefangenen einzusetzen. Auf der anderen Seite sei sie von Regierungsanhängern über Hunderte Übergriffe informiert worden, die diese seitens der Regierungsgegner erlitten hätten. So habe sie mit der Mutter eines Jugendlichen gesprochen, der 2017 von militanten Oppositionellen während einer Protestaktion bei lebendigem Leib angezündet worden und zwei Wochen später seinen schweren Verletzungen erlegen war. »Ich habe mich verpflichtet, diese Beschwerden weiterzuleiten und für Gerechtigkeit und Entschädigung einzutreten, wer auch immer die Täter waren.«

Bachelet zeigte sich besorgt über die sich seit 2013 verschlechternde soziale Lage in dem südamerikanischen Land, würdigte zugleich jedoch die großen Anstrengungen der Regierung, allen Bürgern den Zugang zu Dienstleistungen insbesondere im Gesundheitsbereich zu sichern. Dafür seien 75 Prozent der im Haushalt bereitgestellten Mittel vorgesehen. Die Menschenrechtskommissarin kritisierte, dass die Krise durch die von den USA verhängten Sanktionen verschärft werde.

Künftig sollen zwei Beamte von Bachelets Büro in Caracas präsent sein, um die Behörden beim Schutz der Menschenrechte zu unterstützen, wie es offiziell heißt. Nach dem mit der Regierung geschlossenen Abkommen soll die kleine Delegation ungehinderten Zugang zu den Haftanstalten bekommen und vertraulich mit den Gefangenen sprechen können. Zudem äußerte Bachelet die Hoffnung, dass die von Norwegen vermittelten Gespräche zwischen Regierung und Opposition von Erfolg gekrönt sein werden. Alle Seiten müssten darauf verzichten, kurzfristige Vorteile anzustreben, um mittel- und langfristige Lösungen für alle Bürger des Landes erzielen zu können.

Erschienen am 24. Juni 2019 in der Tageszeitung junge Welt