Die Wurzeln des Baums – Venezuelas revolutionärer Prozess zur Überwindung des Kapitalismus

„Ich bin jeden Tag mehr der Überzeugung, dass es notwendig ist, den Kapitalismus zu überwinden. Aber ich füge hinzu: Den Kapitalismus kann man nicht innerhalb des Kapitalismus überwinden. Nein, der Kapitalismus muss auf dem Weg des Sozialismus überwunden werden.“

Seit Venezuelas Präsident Hugo Chávez am 30. Januar beim Weltsozialforum in Porto Alegre erstmals vom Sozialismus sprach, zu dem sich sein Land entwickeln müsse, hat sich in Venezuela eine intensive Diskussion entwickelt. Die populäre, regierungsnahe Tageszeitung „Vea“ brachte eine mehrteilige Serie mit einführenden Artikeln über den Sozialismus und auch die oppositionellen Medien kamen an der Diskussion nicht mehr vorbei. Mittlerweile spricht sich eine Mehrheit der Bevölkerung Umfragen zufolge für den Aufbau des Sozialismus aus. Und das in einem Land, an dem die antisozialistische Hetze ebenso wenig vorbeigegangen war wie das Triumphgeheul der Herrschenden nach ihrem vermeintlich endgültigen Sieg über den sozialistischen Anlauf in Osteuropa.

In der Diskussion über einen „neuen Sozialismus“, einen „Sozialismus des XXI. Jahrhunderts“ wird allerdings deutlich, dass es sehr unterschiedliche Vorstellungen über den Charakter und die Gestalt gibt, die von marxistischen Konzepten bis hin zu klassisch sozialdemokratischen Vorstellungen reichen. Einig ist man sich, dass es um einen neuen, einen originär venezolanischen Weg zum Sozialismus und nicht um eine Kopie früherer – gescheiterter – Ansätze gehen muss. Dabei entwickelt sich eine hochinteressante Diskussion über die Wurzeln, auf die sich ein originär lateinamerikanischer Sozialismus stützen könne, von dem bereits Anfang des XX. Jahrhunderts der Gründer der Kommunistischen Partei Perus, José Carlos Mariátegui, sprach: „Auf uns kommt die Aufgabe zu, den Indoamerikanischen Sozialismus zu schaffen, denn nichts ist so unsinnig wie wortgetreu europäische Formeln zu kopieren, denn unsere Praxis muss der Realität entsprechen, mit der wir es zu tun haben … Wir wollen also nicht, dass der Sozialismus in Amerika eine Abzeichnung, eine Kopie ist. Wir müssen dem Indoamerikanischen Sozialismus mit unserer eigenen Realität, in unserer eigenen Sprache Leben einhauchen.“

Bolívar – ein Sozialist?

Angesichts der großen Bedeutung, die Simón Bolívar (1783-1830), der Befreier Südamerikas von der spanischen Kolonialherrschaft, sowohl für die historische Identität Venezuelas (und anderer Länder) als auch für den heutigen revolutionären Prozess hat, ist es nicht überraschend, dass sich zahlreiche Autoren bemühen, in den Schriften Bolívars sozialistische Konzepte zu entdecken. Nicht alle gehen dabei soweit wie Jorge Mier Hoffman, der in seinem Aufsatz „El Socialismo Bolivariano“ zu dem Schluss kommt: „Bolívar war ein Sozialist aus Überzeugung.“ Er stützt sich in dieser Einschätzung auf die Forderung Bolívars nach sozialem Ausgleich („Das perfekteste Regierungssystem ist jenes, welche das größtmögliche Glück, die größtmögliche soziale Sicherheit und die größtmögliche politische Stabilität produziert …“) und den Einfluss der französischen Aufklärung auf die Gedankenwelt Bolívars. Ob dies wirklich schon ausreicht, um Bolívar zu einem Sozialisten zu machen, sei dahingestellt. Nicht einmal Chávez geht so weit. In seiner Radio- und Fernsehsendung „Aló Presidente“ am 15. Mai 2005 sagte er: „Wenn Simón Bolívar 20 Jahre länger gelebt hätte, wäre er letztlich Sozialist geworden, denn seine Dekrete wiesen die Richtung auf ein anderes soziales Modell. Deshalb hat die Oligarchie Bolívar verdammt.“ Allerdings ist Jorge Mier zuzustimmen, dass viele Vorstellungen des Befreiers auch auf die heutige Bolivarianische Revolution und den Aufbau eines Sozialismus des XXI. Jahrhunderts Anwendung finden können. So lehnte bereits Bolívar eine Privatisierung der Bodenschätze ab: „Die Bergwerke jeder Art gehören der Republik, sie müssen zum sozialen Wohlergehen bestimmt sein.“

Rodríguez, der Aufklärer

Mehr noch als Simón Bolívar selbst kann das Prädikat eines Sozialisten dessen Lehrer, Simón Rodríguez (1769-1854), verliehen werden. Simón Rodríguez war ebenfalls ein radikaler Anhänger der Ideen der Aufklärung, forderte aber zugleich, dass sich Lateinamerika selbständig und nicht als Kopie europäischer (oder nordamerikanischer) Modelle entwickeln müsse: „Amerika darf nicht getreu imitieren, sondern muss Original sein.“

Manche Autoren haben Rodríguez, der auch unter dem Pseudonym Samuel Robinson wirkte, zu den utopischen Sozialisten (Kommunisten) gezählt und auch Chávez schätzt Bolívars Lehrer als überzeugten Sozialisten ein.

Die wichtigsten Leistungen Rodríguez´ erstrecken sich zweifellos auf den Bildungsbereich, dem er auch unabhängig von der Erziehung seines Schülers praktisch sein ganzes Leben widmete. Dabei hatte Simón Rodríguez – 1858, also neun Jahre, bevor Karl Marx „Das Kapital“ veröffentlichte – bereits ein deutliches Bewusstsein über die Bedeutung der menschlichen Arbeitskraft und zog daraus Schlussfolgerungen für seine Vorstellungen von einem Bildungswesen: „Wenn Sie, wie ich glaube, wünschen, dass meine Arbeit und die Ausgaben nicht verloren gehen, dann füllen Sie ihre Schule mit Indios!!! Die Herren des Landes (im Original hervorgehoben) – die mit ihrem Geld die Regierung und die Kirche und mit ihrer Arbeit die Leute erhalten, haben es wohl verdient, dass man ihren Kindern das Sprechen, das Schreiben, das Rechnungen aufstellen und das anständige Verhalten lehrt, und sei es nur, damit sie gut ihren Herren dienen, die ihnen die Heilige Vorsehung gegeben hat, um ihnen den Weg in den Himmel zu zeigen.“ In der 1955 erschienenen Ausgabe dieses Werkes von Simón Rodríguez hebt der Herausgeber in einer Fußnote den sarkastischen Tonfall Rodríguez´ hervor, der den Feudalismus scharf ablehnte.

Im Werk Rodríguez´ finden wir sehr markante Forderungen an das Schulwesen, die auch heute noch (oder zunehmend wieder) von großer Aktualität sind und in deutlichem Widerspruch zu den neoliberalen Rezepten stehen, die das Bildungswesen als Ware behandeln und privatisieren wollen. Dabei legte Rodríguez auch großen Wert auf eine gesellschaftliche Erziehung der Kinder: „Im Laufe des Tages wird der Lehrer viele Gelegenheiten haben, den Kindern die sozialen Regeln beizubringen. Alles weitere, was man in der Schule lehrt, reduziert sich auf Kommunikationsmedien wie Sprechen, Schreiben, Rechnen usw. Jemand kann ein berühmter Prediger, Literat, Dichter, Journalist, Mathematiker, Theologe sein – und asozial. Und ein Taubstummer, Behinderter und Blinder ein Modell in sozialem Verhalten.“

Zamora, der Bauernbefreier

Bereits Simón Bolívar wollte die Bodenschätze in Gemeineigentum sehen. Aber auch heute noch ist die Beseitigung der Latifundien, des Großgrundbesitzertums, eine der zentralen Voraussetzungen für eine sozial gerechtere Gesellschaft in Venezuela und somit auch eines der wichtigsten Anliegen der venezolanischen Regierung. So kann es nicht verwundern, dass auch der „General des souveränen Volkes“, Ezequiel Zamora (1817-1860), als eine der Wurzeln des neuen venezolanischen Sozialismus angesehen wird. Unter Zamoras Führung erhoben sich am 7. September 1846 in Guambra die Bauern gegen die „Gordos“, die Großgrundbesitzer. „Land und freie Menschen“ sowie „Schrecken der Oligarchie“ waren die Schlachtrufe, mit denen Zamoras Bauernheer zunächst Erfolge erringen konnte, später jedoch geschlagen, zum Tode verurteilt und begnadigt wurde. Im Bürgerkrieg 1859-1863 bekämpfte Zamora ebenfalls die reaktionäre Zentralmacht, hinter der die Großgrundbesitzer standen, und fügte ihr bis zu seinem Tod 1860 mehrere Niederlagen zu.

Heute trägt nicht nur die wichtigste Bauernorganisation – die Frente Campesino Ezequiel Zamora – seinen Namen, sondern auch die Neuverteilung der nicht bebauten Ländereien unter die landlosen Bauern trägt nicht zufällig den Namen „Mission Zamora“.

Bolívar, Rodríguez und Zamora sind die „drei Wurzeln des Baumes“, auf die sich Chávez von Anfang an stützte. Dass auf diesem Baum mittlerweile sozialistische Blüten erscheinen, ist das Ergebnis eines Wachstums, das aus allen Herausforderungen der letzten Jahre – vor allem aus dem gescheiterten Putsch vom April 2002, aus der Schlacht um das Erdöl im Dezember 2002 und Januar 2003 und aus dem Referendum im August 2004 – gestärkt und gefestigt hervorgegangen ist. Trotzdem erleben wir in Venezuela noch keine sozialistische Revolution im klassischen Sinn, aber einen revolutionären Prozess, der sich mittlerweile ausdrücklich die Überwindung des Kapitalismus und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zum Ziel gesetzt hat. Die Debatte darüber, was unter diesem Sozialismus zu verstehen sein wird, ist in vollem Gange. Die 16. Weltfestspiele der Jugend und Studierenden, die in diesen Tagen in Caracas und anderen Städten Venezuelas stattfinden, stehen auch im Zeichen dieser Diskussion.

Erschienen in der Wochenzeitung UZ – Unsere Zeit vom 12. August 2005