Die rote Taverne in Tàrbena

Jerónimo Pinet stellt die »Internationale« lauter, die aus dem kleinen CD-Spieler im Regal hinter dem Tresen ertönt. Eine Reisegruppe hat sich eben an den Tischen in der Schankstube der Bar in Tàrbena, einem kleinen Ort im Hinterland der spanischen Costa Blanca, niedergelassen. Seine Gäste so zu begrüßen hat für den Wirt eine lange Tradition. »Das erste Mal spielten wir die Internationale, als ich diese Bar eröffnet habe«, erzählt er uns. Das war am 1. August 1974. In Madrid regierte noch immer der greise Diktator Francisco Franco, die Guardia Civil wütete nach dem Vorbild der deutschen Nazi-Geheimpolizei in Spanien, und den nationalen Minderheiten ­war noch immer der Gebrauch ihrer Sprachen verboten. Auch Pinet durfte noch nicht die historische Fahne des Königshauses von Aragón mit den vier roten Streifen auf gelbem Grund hissen, nicht nur die Nationalflagge Kataloniens, sondern auch Valencias, zu dem Tàrbena gehört.

Der 1937 geborene Jerónimo Moncho Pascual, den hier alle nur mit dem Spitznamen seiner Familie – Pinet – rufen, wuchs in einer Bar auf. Im Alter von drei Jahren berührte er beim Spielen eine Granate, die noch aus dem kurz zuvor mit dem Sieg der Franco-Putschisten gegen die Spanische Republik zu Ende gegangenen Krieg stammte. Die Bombe explodierte und zerfetzte die rechte Hand des Kindes. »Mir erging es nicht anders, als es noch heute Tausenden Kindern weltweit geht, in Afghanistan oder in Jugoslawien«, kommentiert Pinet dies heute. »Sie und ich müssen die Konsequenzen von Kriegen tragen, an denen wir nicht beteiligt waren.« Manchem spanischen Journalisten war diese Erklärung nicht abenteuerlich genug, und so entstand die Legende, Pinet sei das Opfer einer zu früh explodierten Bombe geworden, die sein Großvater für einen Überfall gebastelt hatte. »Diese Journalisten haben mich gar nicht erst gefragt«, schüttelt er noch heute den Kopf. An der Geschichte stimmt lediglich, daß Großvater Pinet tatsächlich ein Gesetzloser war, ein »Bandolero«. Aber er habe sich für die Schwachen eingesetzt, die Reichen beraubt und den Armen geholfen, ist sich sein Enkel sicher.

Jerónimo Pinet entschied sich trotzdem für einen anderen Weg und organisierte sich. Seine Bar wurde zu einem Treffpunkt für geheime Sitzungen der illegalen Kommunistischen Partei Spaniens (PCE), und in dem kleinen Ort half man sich. Ehrliche Zivilgardisten gaben den Genossen wertvolle Tipps, und umgekehrt wurden sie hier und da von den Kommunisten aus dem Untergrund unterstützt. Man kannte sich, auch wenn man auf entgegengesetzten Seiten stand. Als der Diktator Franco am 20. November 1975 endlich starb und in den Wohnungen der Republikaner in Spanien und im Exil die lange kaltgestellten Sektflaschen geöffnet wurden, herrschte auch in der Casa Pinet Jubel. Die offizielle Informationstafel der Stadtverwaltung an der nur wenige Meter entfernten Plaza Mayor wurde von den Kommunisten des Ortes mit der roten Fahne mit Hammer und Sichel verhüllt. Schon einige Monate zuvor hatte Pinets Sohn hier die gerade von den Behörden der Diktatur angebrachten Straßenschilder entfernt, die den zentralen Platz nach Francos Regierungschef Luis Carrero Blanco, der von einem Kommando der baskischen ETA in die Luft gejagt worden war, benannt hatten. Ein Foto von dieser Aktion hängt heute noch an einer Wand in der Bar.

Auch Pinet selbst hatte sich trotz seiner Behinderung während der Diktatur am Widerstand gegen den Franquismus beteiligt. Im Alter von 14 Jahren schmückte er in dem nahegelegenen Ort Vila Joiosa das Denkmal für den dort 1842 geborenen Arzt und Republikaner José María Esquerdo mit der rot-gelb-violetten Fahne der Spanischen Republik. In dieser sieht er bis heute die verfassungsmäßige Nationalflagge Spaniens, denn die rot-gelb-rote Fahne der Monarchie sei nur durch den Putsch Francos 1936 durchgesetzt worden. Er dürfe jedoch auf der Straße die Fahne der Republik nicht hissen, antwortet Pinet auf meine Frage, warum über dem Eingang dann die »falsche« Fahne wehe. Er verweist auf die direkt daneben hängenden Flaggen Valencias, Kubas, Ecuadors, des Irak und der Sowjetunion. Und er zeigt im Inneren seiner Bar umher, wo die Farben der Republik dominieren. Manchmal kämen Faschisten in seine Gaststätte und beschwerten sich, daß die »offizielle« Fahne Spaniens hier nicht zu sehen sei. Die könne er beruhigen, erzählt Pinet schmunzelnd, denn natürlich habe er auch dieses Banner ausgestellt. Er zeigt auf einen kleine Tischflagge, die auf einem Schrank steht, genau zwischen den ebenso großen Flaggen der Sowjetunion und der DDR. Ein mittlerweile ziemlich verblaßtes Porträt von deren früherem Regierungschef Erich Honecker hängt ebenfalls an der Wand, das Geschenk eines Matrosen von einem Schiff aus der DDR, der einmal bei ihm einkehrte. Auf der gegenüberliegenden Seite, direkt hinter dem Tresen, prangt ein persönlich signiertes Linke-Wahlplakat mit dem Bild von Oskar Lafontaine. »Alle Bilder, Fahnen und Erinnerungsstücke, die ich ausstelle, stammen von Freunden, die sie mir geschenkt haben«, erzählt Pinet. Und er hat viele Freunde, so daß nicht nur die Wände übervoll behängt sind, sondern sich auch in Glasvitrinen und Bücherschränken Dokumente, Briefe und Bilder stapeln. Und so manches hat er auch noch bei sich zu Hause aufbewahrt, erzählt er.

So ist die Bar heute zu einem mit Anekdoten und Devotionalien der vergangenen Jahrzehnte angefüllten Museum geworden. Neben Auszeichnungen und Urkunden, die die hervorragende Küche von Jerónimo Pinet und seiner Frau Anita loben, hängen Fahnen und Fotos aus der Geschichte der kommunistischen und linken Bewegung Spaniens und der ganzen Welt an den Wänden, sind in den Vitrinen ausgestellt und besetzen auch Teile der Bar. In der Mitte des vorderen Schankraums steht ein steinerner Brunnen, die »heilige Quelle der Demokratie«, wie ein handgemaltes Schild verkündet. Doch wenn das Wasser läuft, muß es sich seinen Weg durch einen Trichter bahnen. Den oberen Teil, wo viel Platz für viel Wasser ist, hat Pinet dem »Kapital« und den »Politikern« gewidmet, während das enge Rohr unten, wo nur ein Rinnsal des kostbaren Nasses herauskommt, für »das Volk« steht. Seine Bar stehe »im Dienst meines Volkes«, heißt es deshalb bereits auf der Speisekarte und den Servietten. Darüber ist ein grüner Baum zu sehen, dessen Wurzeln die vier roten Streifen der katalanischen Fahne sind, und in dessen Geäst Hammer, Sichel und roter Stern leuchten. Über allem dann in valencianischem Katalanisch der Satz »Die Frucht wird besser sein, als die Blüte verspricht«.

Wenige Monate nach dem Tod des Diktators besuchte der damalige Generalsekretär der spanischen KP, Santiago Carrillo, Pinets Restaurant. Obwohl es regnete, mußten zwei Zivilgardisten draußen warten. Sie hatten die strikte Anweisung erhalten, darauf zu achten, daß niemand etwas durch die Scheiben der Bar nach innen werfen konnte, wo Carrillo, Pinet und ihre Genossen aßen, tranken und diskutierten. »Bis vor kurzem haben sie uns noch verfolgt, und jetzt beschützen sie uns«, faßte Carrillo damals die Stimmung in der Phase des Übergangs zur Demokratie zusammen, der »Transición«, die das politische System Spaniens bis heute prägt.

Pinet steht zu seinen Zielen und seinen Utopien, auch wenn er heute keiner Partei mehr angehört. Als Santiago Carrillo 1985, nach dem Scheitern seiner »eurokommunistischen« Linie, mit der PCE brach, folgte ihm Pinet. Er hält das heute noch für richtig, denn sie seien mit der von der damaligen Führung der Partei betriebenen Gründung der »Vereinigten Linken« (IU) nicht einverstanden gewesen. Viele der daran beteiligten Kräfte hätten mit dem Kommunismus nichts im Sinn gehabt. Deshalb schloß sich Pinet der von Carrillo gegründeten »Partei der Arbeiter Spaniens« (PTE) an, die schließlich Anfang der 90er Jahre in der sozialdemokratischen PSOE aufging. Pinet wurde dadurch das älteste Mitglied der örtlichen Sektion der spanischen »Sozialisten« – und für diese wegen seiner ungebrochen kommunistischen Ideen ein Klotz am Bein. Da sie ihn nicht einfach rausschmeißen konnten, verfiel die lokale Parteiführung auf eine bizarre Idee. Auf dem dafür vorgesehenen Formular meldete man Anfang 1996 an die übergeordnete Leitung, Pinet sei »verstorben«. Grinsend zeigt uns der quicklebendige Wirt das Papier, das bis heute eingerahmt an der Wand seiner Gaststätte hängt.

Pinet hat nicht um eine Rückkehr in die Partei gekämpft. Von der PSOE hält er heute ebensowenig wie von den anderen Parteien und Politikern. Es gehe diesen nur noch um Geld und Karriere, nicht mehr um Ideale. Ob er in dieses Urteil auch andere, heute aktive Politiker einschließe, frage ich und zeige auf ein großes Plakat des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, das ebenfalls einen Ehrenplatz an der Wand gefunden hat. Nein, dieser sei völlig anders, unterstreicht Pinet. »Chávez ist eine Blume, die aus der Saat gewachsen ist, die Fidel und Che Guevara ausgebracht haben!«

Nicht nur das Bild Fidels ist in Pinets Bar präsent, sondern auch eine persönliche Visitenkarte des früheren kubanischen Präsidenten. Dieser habe ihm eine kubanische Fahne geschickt, die ihm der damalige kubanische Botschafter in Madrid vor einigen Jahren persönlich überbracht habe, erzählt Pinet stolz. An berühmten Gästen hatte seine Gaststätte in den vergangenen Jahren keinen Mangel. Ein Foto zeigt den Wirt Arm in Arm mit dem nicaraguanischen Priester und Dichter Ernesto Cardenal. Auf einem anderen ist Willy Brandt zu sehen, der ebenfalls in der Casa Pinet speiste. Im Sommer erst war der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg bei ihm zu Gast. Und auch Oliver Kahn habe es sich hier schon schmecken lassen, ruft Anita aus der Küche.

Nicht nur die museumsreife Andenkensammlung, sondern vor allem die ausgezeichneten Speisen locken auch Reisegruppen in das ansonsten beschauliche Örtchen, das 27 Kilometer von den touristischen Hochhausbunkern Benidorms entfernt liegt. In Reiseführern wird vor allem die eigentlich aus Mallorca stammende Hartwurst gelobt, und die zu günstigen Preisen angebotene Paella ist auch nicht zu verachten. Der Hauswein ist ebenfalls lecker, allerdings ist die mit dem Hammer-und-Sichel-Baum Pinets ausgezeichnete Flasche zum Öffnen eigentlich zu schade. Gut also, daß sie bereits offen auf den Tisch gestellt wird, wenn man zum Essen Rot- oder Weißwein bestellt. Zum Abschluß reicht Pinet dann ein Gläschen Moscatel, einen aus der Region stammenden Süßwein. Das begeistert auch Gäste, die mit der Dekoration der Räume nichts anzufangen wissen. Unter tausend Besuchern gäbe es vielleicht zwei oder drei, die ihn zu provozieren versuchten, schmunzelt Pinet. Denen erkläre er ganz ruhig, daß er sie nicht eingeladen habe, sondern sie bei ihm wegen einer Reservierung angerufen hätten. Wenn sie sich bei ihm wohlfühlten, freue er sich. Wenn aber nicht, dann stehe es ihnen frei, wieder zu gehen. Meistens sei dann alles gut, erzählt er. Nur einmal hätten ein paar »Faschisten« versucht, ihn zu provozieren. Die hätten es sich ausführlich schmecken lassen, und dann verlangt, die fällige Rechnung – mehr als 1300 Pesetas, umgerechnet 780 Euro – nicht bezahlen zu müssen. Sonst werde man die Guardia Civil rufen und sich wegen der kommunistischen Propaganda beschweren. Die hätten wohl gedacht, mit seiner Tochter könnten sie das machen, da er selbst zunächst nicht im Haus gewesen sei, erinnert sich Pinet. Doch da seien sie bei der Falschen gelandet. Man kenne sich in Tàrbena schließlich. Also habe seine Tochter die Rechnung ganz ordnungsgemäß aufgestellt, die Mehrwertsteuer ausgewiesen und so weiter. Und sich telefonisch selbst bei der Polizei erkundigt, wie sie mit den widerspenstigen Gästen umgehen solle. Ergebnis des Ganzen sei gewesen, daß schließlich drei Zivilgardisten im Raum gestanden hätten, als die Rechnung präsentiert wurde. Die Beamten hätten den Herrschaften beschieden, sie sollten erst mal bezahlen. Dann könnten sie sich das Beschwerdebuch geben lassen und außerdem gerne mit auf die Wache kommen, um Anzeige zu erstatten. »Wir hätten ihnen bei dem großen Konsum sonst sicherlich etwas von der Rechnung erlassen, aber so mußten sie alles zahlen«, schmunzelt Pinet noch heute.

Nur als ich ihn nach der Zukunft seiner Bar frage, verdunkelt sich das Gesicht des Wirtes. Das sei seine größte Sorge, gesteht er. Seine Tochter habe jahrelang in der Küche mitgeholfen, darauf nun jedoch keine Lust mehr und sei zum Studieren an die Universität gegangen. Einer seiner Söhne betreibt nur eine Straße weiter mittlerweile selbst eine kleine Bar, und auch sein dritter Sprößling zeigt keine Neigung, die Lokalität zu übernehmen. So besteht die Gefahr, daß die Casa Pinet schließen muß, wenn der alte Wirt und seine in der Küche zaubernde Frau die Arbeit eines Tages nicht mehr schultern können. Bereits jetzt ist das Haus nur noch zwischen 10 und 17 Uhr geöffnet, eine ungewöhnliche Zeit für spanische Eßgewohnheiten. Bis auf weiteres aber lädt Pinet Tag für Tag – außer Mittwochs – zu Tisch.

Erschienen am 4. Februar 2012 in der Tageszeitung junge Welt