Dialektik eines Tages

Die Tatsache, dass man heutzutage fast überall und immer Zugriff auf das Internet hat, bringt manchmal interessante Effekte mit sich. In Venezuela, wo moderne Smartphones zumindest in den großen Städten allgegenwärtig sind, haben am Donnerstag viele Anhänger der Opposition ihren Frust über den Verlauf der Großdemonstration gegen die Regierung in Caracas spontan und ungefiltert in alle Welt hinausposaunt – bevor ihnen ihre Tageszeitungen und Fernsehsender klarmachen konnten, dass sie Zeugen eines gigantischen Erfolges geworden seien. Die Enttäuschung ist nachvollziehbar, denn die Führer der Rechten hatten im Vorfeld bei ihren Gefolgsleuten riesige Erwartungen geschürt. Die Rede war von einem »historischen« und »entscheidenden« Tag, von einer »Einnahme« oder »Besetzung« der Hauptstadt. Geblieben ist davon eine einstündige Kundgebung, dann wurden die Teilnehmer nach Hause geschickt.

Das Hauptproblem von Venezuelas Opposition ist sie selbst. Das heterogene Bündnis wird nur durch das gemeinsame Ziel zusammengehalten, die Regierung zu stürzen. Seit 1999, als Hugo Chávez sein Amt antrat, haben die führenden Köpfe des rechten Lagers ihre Anhänger immer wieder mit einem »Jetzt aber« und »Einmal noch« aufgepeitscht. Tatsächlich aber ist sich der »Tisch der demokratischen Einheit« (MUD) komplett uneins, auf welche Weise eine Regierungsübernahme erfolgen könnte – und was danach kommen soll. Von den führenden Oppositionsvertretern sieht sich rund ein halbes Dutzend schon als künftiger Staatspräsident – und will diesen Posten keinesfalls an einen anderen abtreten. Deshalb musste der selbst bei den eigenen Anhängern wenig populäre MUD-Sekretär Jesús Torrealba als Hauptredner der Kundgebung am Donnerstag herhalten, weil keiner der Möchtegernpräsidenten den Vorzug gegenüber einem anderen erhalten sollte.

Die Euphorie im Kabinett und unter den »Chavistas« ist nach diesem Tag verständlich. Viele hatten befürchtet, dass es die Opposition wie schon 2002 und 2014 auf eine gewaltsame Konfrontation ankommen lassen würde. Das geschah nicht, wohl auch wegen der gelungenen Großdemonstration des Regierungslagers im Stadtzentrum. Es war im Vorfeld klar, dass die Rechten viele Menschen mobilisieren würden. Unklar war aber, wie viele auf der anderen Seite trotz aller Probleme und der auch im linken Lager verbreiteten Kritik an der Regierungspolitik für die Verteidigung der Bolivarischen Revolution auf die Straße gehen würden. Präsident Nicolás Maduro war die Erleichterung anzumerken. Doch entscheidend wird sein, ob er den Rückenwind nutzt, um wie angekündigt mit konkreten Maßnahmen die »Gegenoffensive« einzuleiten. Juristische Scharmützel mit Oppositionspolitikern wie die ins Gespräch gebrachte Aufhebung von deren parlamentarischer Immunität löst die hausgemachten Probleme nicht, die Maduro am Donnerstag offen angesprochen hat: Korruption, Inkompetenz und das Nichterfüllen selbstgestellter Ziele.

Erschienen am 3. September 2016 in der Tageszeitung junge Welt