junge Welt, 14. Januar 2011

Deutschland angeklagt

junge Welt, 14. Januar 2011Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) schäumt. Am Mittwoch abend teilte ihm sein griechischer Amtskollege Dimitrios Droutsas per Telefon mit, daß sich Athen an einem derzeit laufenden Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag beteiligen werde. Dabei geht es um die Frage, ob Überlebende von Nazikriegsverbrechen Deutschland auf die Zahlung von Schadenersatz verklagen können. Griechenland will dabei das deutsche Massaker in Distomo zur Sprache bringen. Dort hatten am 10.Juni 1944 SS-Schergen 218 wehrlose Bewohner ermordet, unter ihnen zwei Säuglinge und 34 weitere Kinder.

Die Bundesregierung hatte den IGH, der als wichtigste juristische Instanz der Vereinten Nationen zur Klärung von Streitfällen zwischen Staaten gilt, im Dezember 2008 angerufen. Zuvor hatten in Italien Gerichte entschieden, daß die Überlebenden von Massakern der Naziwehrmacht Berlin auf Wiedergutmachung verklagen können, und sich hieraus ergebende Ansprüche auch in Italien zwangsvollstreckt werden können. Das Kassationsgericht in Rom entschied im Juni 2008 außerdem, daß dies ebenfalls für die Überlebenden von Distomo gelte. Obwohl im Oktober 1997 ein Gericht in Livadia den Kindern der Opfer Schadenersatz in Höhe von 37,5 Millionen Euro zugesprochen hatte, verweigerte Berlin die Zahlung und legte Revision ein. Diese wurde im Mai 2000 vom höchsten griechischen Gericht zurückgewiesen. Eine Zwangsvollstreckung der Forderungen zum Beispiel durch eine Versteigerung der Immobilie des Goethe-Instituts in Athen konnte die Bundesregierung im letzten Moment abwenden. Daraufhin wandten sich die Überlebenden an die italienischen Gerichte.

Obwohl sich die Bundesregierung an all diesen Verfahren beteiligte, verweigert sie den Urteilen italienischer Gerichte die Anerkennung. Schon Westerwelles Amtsvorgänger Frank-Walter Steinmeier (SPD) verwies dabei auf die »Staatenimmunität«. Dieser Grundsatz besagt, daß kein Staat über einen anderen zu Gericht sitzen darf. Doch schon die Richter in Rom und Athen hatten erklärt, diese Regel könne bei schweren Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen keine Anwendung finden.

So hatte auch Berlin einst argumentiert, als der frühere jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic nach Den Haag ausgeliefert und ihm dort bis zu seinem noch immer nicht vollständig aufgeklärten Tod in der Zelle am 11. März 2006 der Prozeß gemacht wurde. Jetzt aber wettert Westerwelle gegen Athen. Er habe »kein Verständnis« für die Entscheidung der griechischen Regierung. »In Deutschland wissen wir um unsere Verantwortung für unsere Geschichte. Und wir wissen auch um das besondere Leid der griechischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg.« Aber kosten darf das nichts: »Was Klagen gegen die Bundesrepublik betrifft, erwarten wir, daß international anerkannte Rechtsgrundsätze und insbesondere Deutschlands Immunität als Staat respektiert werden.«

»Es ist beschämend, daß Deutschland weiterhin verbissen die Entschädigung von NS-Opfern verweigert«, kritisierte dies am Donnerstag die innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Ulla Jelpke. Die Klage der Bundesregierung vor dem IGH sei »der reine Zynismus«, so Jelpke. »Die Opfer haben einen Anspruch darauf, nicht mit wohlfeilen Betroffenheitsbekundungen aus Berlin abgespeist zu werden, sondern tatsächliche Entschädigungen zu erhalten.«

Erschienen am 14. Januar 2011 in der Tageszeitung junge Welt