Der Schwesterstein

Die Pemón-Indígenas aus Venezuela wollen einen Stein zurück, der seit 1998 im Berliner Tiergarten liegt. Jahrelang ist nicht viel passiert. Briefe des Außenministeriums in Caracas an die Bundesregierung blieben unbeantwortet, damit hatte es sich. Nun ist Bewegung in die Sache gekommen. Im Juni demonstrierten Angehörige des indigenen Volkes, das vor allem in der Hochebene Sabana Grande im Südosten Venezuelas lebt, vor der deutschen Botschaft in Caracas. Am vergangenen Mittwoch folgte eine Kundgebung am 30 Tonnen schweren Stein des Anstoßes im Tiergarten. In dieser Woche sprach der Präsident des Instituts für das kulturelle Erbe (IPC) Venezuelas, Raúl Grioni, mit Berliner Behörden über das Problem. Als Verhandlungen wollte er dies gegenüber jW noch nicht bezeichnen. So ließe sich allenfalls das kurze Gespräch einer Pemón-Delegation mit dem deutschen Botschafter in Caracas, Georg Clemens Dick, bewerten. Der Pressesprecher des Außenamts, Andreas Peschke, erklärte dagegen am Donnerstag im Haus der Bundespressekonferenz in Berlin, sein Ministerium habe Vorschläge für eine Einigung unterbreitet, über die »bereits in extenso gesprochen« worden sei. »In wichtigen Sachfragen konnten Fortschritte erzielt werden«, es bleibe nach wie vor »Klärungsbedarf«.

Hintergrund ist das »Global Stone«-Projekt Wolfgang Kraker von Schwarzenfelds. Der Künstler hat auf jedem Kontinent zwei »besonders charakteristische« Steine aufgetan und jeweils einen nach Berlin schaffen lassen: »Einer der beiden Geschwistersteine verbleibt im Land seiner Herkunft. Der zweite Stein geht auf die Reise nach Deutschland.« Nach ihrem Trip wurden die fünf Gesteinsbrocken poliert und unweit des Brandenburger Tors im Kreis aufgestellt. Alljährlich sollen sie am 21. Juni, dem Tag der »Sommersonnenwende«, das Sonnenlicht nicht nur reflektieren, sondern »in einer Frequenz von 16 Minuten um die Erde zu ihren Schwestersteinen« senden. So entstünden »fünf unsichtbare Linien aus Licht«, meint von Schwarzenfeld. Der Stein, der so angeblich von Berlin aus Richtung Venezuela auf Sendung geht, hat für die Pemón besondere Bedeutung. In einer alten Legende des Volkes verliebte sich ein junger Feldarbeiter in die schöne Tochter eines »Piasán« (Medizinmanns), der gegen die Verbindung war. Das Paar haute ab. Als es nach wilder Flucht ausruhte, wurde es von Makunaima, dem wichtigsten Gott der Pemón, entdeckt. Er verwandelte die beiden in Steine: »Kueka-Abuela« und »Kueka-Abuelo«, Großmutter und Großvater. So berichtet es jedenfalls der Pemón Mario Díaz. Der Stein, der den jungen Mann repräsentiert, liegt bis heute im Canaima-Nationalpark. Seine versteinerte Geliebte hat von Schwarzenfeld für den Park am Berliner Regierungsviertel poliert.

Von Schwarzenfeld hält das für Lügen: »Wenn dieser Stein in ihrer Kultur eine Bedeutung gehabt hätte, hätten diese Menschen, die in der Nähe der Fundstelle wohnen, mit Sicherheit einen anderen Stein ausgewählt oder die Hebung dieses Steins verhindert.« Genau das haben sie getan. Zwei Monate lang blockierten Pemón 1998 den Abtransport des Steins, bis dieser durch die Nationalgarde gewaltsam durchgesetzt wurde. Autonomierechte für die Indígenas wurden erst unter Hugo Chávez festgeschrieben. Der war damals nicht mehr als ein einfacher Präsidentschaftskandidat.

Etwas hat der Stein bereits bewirkt. Er hat Venezuelas Politiker über Parteigrenzen hinweg geeint. Ende Juni verabschiedeten Abgeordnete des Regierungslagers und der Opposition in der Nationalversammlung gemeinsam eine Resolution, in der die Rückgabe des Findlings an die Pemón gefordert wird.

Erschienen am 4. Juli 2012 in der Tageszeitung junge Welt