Der Schwarze Kanal: Wie Doha aussehen

Anfang 2015 lag der Erdölpreis auf den Weltmärkten bei unter 50 US-Dollar. Damit hatte er sich innerhalb eines halben Jahres mehr als halbiert. Für erdölexportierende Länder wie Venezuela bedeutete das ernste Schwierigkeiten. In den »westlichen« Hauptstädten lehnte man sich dagegen entspannt zurück. Es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die nervige Regierung von Nicolás Maduro in Caracas praktisch von selbst verschwinden würde. Doch obwohl Washington die Lage in dem südamerikanischen Land im März per Dekret sogar zur »Gefahr für die nationale Sicherheit« der USA erklärte, ist der Staatschef immer noch im Amt. Und inzwischen steigt der Ölpreis wieder. In dieser Woche lag er bei über 60 Dollar, ein Anstieg von mehr als 16 Prozent in den vergangenen drei Monaten.

Jetzt herrscht wieder Alarmstimmung im Propagandaministerium. Wenn es der Ölpreis nicht richtet, muss die psychologische Kriegsführung nachhelfen. Am Dienstag wärmte tagesschau.de eine olle Kamelle auf, über die junge Welt schon im Februar unter der Überschrift »Schauermärchen« berichtet hatte: Venezuelas Parlamentspräsident Diosdado Cabello soll in den Drogenschmuggel verwickelt sein. Dabei beruft sich die Vorzeigemarke des deutschen Qualitätsjournalismus auf das Wall Street Journal aus New York. Dessen langer Artikel stützt sich auf anonyme Gewährsleute in US-Ministerien sowie auf Überläufer aus Venezuela – Exmilitärs und Exminister, gegen die in dem südamerikanischen Land wegen Korruption und Unterschlagung ermittelt wird. Solche Leute sind in Washington willkommen, wenn sie die gewünschten Aussagen mitbringen, die gegen unerwünschte Regierungen verwendet werden können.

Wirkliche Neuigkeiten werden im WSJ-Beitrag nicht mitgeteilt – wenn man eine Artikelserie der spanischen ABC vom Jahresanfang zum gleichen Thema kennt. Auf die Geschichten dieses reaktionär-monarchistischen Blattes weist tagesschau.de wenigstens hin – um die von der venezolanischen Justiz verhängten Ausreisesperren gegen 20 Journalisten erwähnen zu können. Gegen diese sind Verleumdungsklagen Cabellos anhängig, weil sie die ABC-Beiträge unhinterfragt nachgeplappert hatten.

Natürlich ist es reiner Zufall, dass am selben Tag, an dem sich tagesschau.de als Aufwärmküche versucht, auch die Süddeutsche Zeitung Venezuela eine ganze Seite widmet. »Kampfzone Caracas« ist der mit Stereotypen und Halbwahrheiten angefüllte Artikel von Boris Herrmann überschrieben. Venezuela wird darin mal eben zum »gescheiterten Staat« erklärt – also auf eine Ebene mit Somalia und dem vom Westen zerbombten Libyen gestellt. »In Venezuela sind die Gefängnisse voll, die Supermärkte leer«, heißt es schon in der Unterzeile. Dann geht es um glühende Anhängerinnen von Hugo Chávez, die maßlos von dessen Nachfolger Nicolás Maduro enttäuscht sind.

Unzufriedenheit mit Maduro gibt es in Venezuela durchaus, und die Menschen haben Grund dafür. Zu viele Ankündigungen und Parolen in den Reden, zu wenige konkrete, spürbare Maßnahmen gegen den Wirtschaftskrieg der rechten Opposition. Doch was von Maduro erwartet wird, ist genau das Gegenteil von dem, was sich Tagesschau und Süddeutsche wünschen. Gefordert wird von vielen Chavistas schärferes Vorgehen gegen die Kapitalisten, Rechten und Korrupten. Genau gegen die die also, die – wenn sie tatsächlich mal eine Zelle von innen sehen – im Ausland als »politische Gefangene« hofiert werden.

Boris Herrmann trauert vergangenen Zeiten nach, in denen es in Venezuela zu Hungerrevolten kam: »Wenn die Geschichte anders verlaufen wäre, könnte Caracas heute wie Doha aussehen.« Wie Doha? Wie die Hauptstadt des Emirats Katar also, in dem Touristen wegen »Blasphemie« zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt werden. Wo auf Homosexualität fünf Jahre Knast stehen. Wo Arbeiter wie Sklaven gehalten werden, um die Prunkstätten für die Fußballweltmeisterschaft 2022 zu bauen.

Erschienen am 23. Mai 2015 in der Wochenendbeilage der Tageszeitung junge Welt