Der Guerrillero. Santiago Baez

Als am 23. Januar 1958 in Venezuela nach jahrzehntelanger Herrschaft der Diktator Marcos Pérez Jiménez gestürzt wurde, blühte für kurze Zeit die Hoffnung auf Freiheit und wirkliche Demokratie. Führende Vertreter der in die Illegalität gedrängten Parteien kehrten aus dem Exil zurück, auch die Kommunistische Partei konnte wieder an die Öffentlichkeit treten. Jugendliche, Schülerinnen, Schüler und Studierende forderten grundlegende Reformen, soziale Gerechtigkeit, wirkliche Demokratie. Viele von ihnen waren trotz der Verfolgungen unter der Diktatur beeinflusst von marxistisch-leninistischen Ideen, die KP hatte als führende Kraft des Widerstandes gegen die Diktatur hohes Ansehen.

Doch nur wenige Monate nach dem Sturz des Diktators schlossen sich die bürgerlichen Parteien im "Pakt von Punto Fijo" zusammen, teilten die Macht unter sich auf und schlossen die Kommunisten von der Teilhabe an der Regierung aus. Unter Romulo Betancourt begann, nur Monate nach dem Rückgewinn der Demokratie, wieder die Verfolgung und Unterdrückung der Linken.

Als Reaktion auf den Verrat an ihren Hoffnungen griffen zahlreiche Jugendliche zu illegalen Aktionsformen. Besonders in der Hauptstadt entwickelte sich eine regelrechte Stadtguerilla. Anfang der 60er Jahren gehörten allein in Caracas mehr als 150 Jugendliche einer Guerilla-Abteilung an, die Propagandaaktionen in der Hauptstadt entwickelte. Einer von ihnen war Santiago Baez, damals noch keine 18 Jahre alt, der sich noch Jahrzehnte später lachend an die Entführung eines Lebensmitteltransporters erinnerte, der von ihm und einem weiteren Compañero in eines der Armenviertel gefahren wurde. Während andere Guerilleros mit Straßenblockaden verhinderten, dass die Polizei den Transporter zurückerobern konnte, kletterte einer der Kämpfer auf das Dach des Lastwagens und rief: "Volk! Komm und iss!" Innerhalb kürzester Zeit waren auch die letzte Fleischkonserve und die letzte Milchpackung verschwunden.

Die Zeit der Stadtguerilla erschien Santiago Baez später als die erfolgreichste und beste Zeit seines Kampfes. Nach mehreren Jahren in den illegalen Einheiten in der Hauptstadt gehörte er zu denen, die in den Bergen die Guerilla der Nationalen Befreiungsstreitkräfte (FALN) bildeten. Jahre später war er sich im Gespräch mit anderen Mitkämpfern einig, dass der Schritt in die Berge ein Fehler gewesen war. Während bereits damals rund 80 Prozent der venezolanischen Bevölkerung in den Städten lebte, konnten die Guerilleros in den Bergen tagelang marschieren, ohne auf einen Menschen zu stoßen. Unter dem Einfluss der damaligen "Focus-Theorie", wonach in den Bergen Guerilla-Herde gebildet werden sollten, um danach dann in die Städte einzumarschieren, gingen die venezolanischen Guerilleros den umgekehrten Weg und marschierten aus den Städten in die Berge.

Trotz der sich schnell abzeichnenden Niederlage der Guerilla gelang es den Regierungstruppen nie, sie vollständig zu besiegen. Noch in den 80er Jahren beging die Armee Venezuelas Massaker an Guerillagruppen, indem sie Lager aus der Luft komplett ausradierte. Erst 1994 stellte die letzte Guerillagruppe, die Frente Américo Silva, offiziell den Kampf ein. Rund 20 Guerilleros kehrten in die Stadt zurück und gaben offiziell die Waffen ab, obwohl das letzte Gefecht bereits zehn Jahre zurück lag.

Zu diesem Zeitpunkt hatten sich in der venezolanischen Politik bereits dramatische Veränderungen ergeben. Am 4. Februar 1992 hatten sich Militärs unter der Führung von Oberstleutnant Hugo Chávez Frías gegen die korrupte Regierung des sozialdemokratischen Präsidenten Carlos Andrés Pérez erhoben. Bis heute wenig bekannt ist, wie die Soldaten mit Zivilisten gemeinsam kämpften. Einer von ihnen war Santiago Baez, der aus einem geheimen Waffenlager die Guerilleros wieder bewaffnete und in der wichtigsten Kaserne der Hauptstadt Caracas, Fuerte Tiuna, dazu beitrug, den um den Präsidentenpalast kämpfenden Einheiten den Rücken freizuhalten.

Der Aufstand scheiterte, aber wenige Monate später versuchte eine Gruppe früherer Guerilleros, Chávez und andere gefangene Aufständische aus dem Gefängnis zu befreien. Zu der Gruppe unter der Führung des legendären Comandante Elías gehörte auch Santiago Baez, der die letztlich gescheiterte Aktion schwer verletzt überlebte. Fünf Schüsse steckten in seinem Körper, monatelang lag er im Krankenhaus, aber mit dem ihm eigenen zähen Willen kämpfte er sich zurück ins Leben und fand gleichzeitig noch die Kraft, gegen die Lügen und Entstellungen in den Zeitungen vorzugehen, die ihn und seine Compañeros als Drogenhändler ohne politische Ziele verleumdeten: "Ich bin Teil der bolivarianischen Bewegung!"

Gegenüber Freunden und Bekannten blieb er stets bescheiden, hielt sich für nichts Besonderes. Aber seine Compañeros wissen es besser, viele von ihnen würden heute nicht mehr leben, wenn Santiago Baez nicht trotz Folter und Misshandlungen geschwiegen hätte. Viele von ihnen kamen immer wieder zu Besuch und erinnerten sich mit Santiago Baez und Tanja, seiner deutschen, seit Jahrzehnten in Venezuela wohnenden Lebensgefährtin, der alten Zeiten. Auch die Mitarbeiter der kubanischen Botschaft in Caracas gingen in seiner Wohnung ein und aus, die direkt über seiner kleinen Autowerkstatt lag. Die Botschaft zählte schließlich seit Jahren zu seinen treuesten Kunden.

Diese kleine Werkstatt wurde auch für die Mitglieder der SDAJ eine wichtige Anlaufadresse, als sie im Sommer 2005 zu den Weltfestspielen der Jugend und Studierenden nach Caracas kamen. Neben Reifen, Ölkanistern und Werkzeug lagerten stapelweise Flugblätter, Zeitungen und Aufkleber, die von den Jugendlichen aus Deutschland an die Delegierten aus aller Welt verteilt wurden. Selten kamen die Jugendlichen schnell wieder weg, denn Santiago und Tanja wollten reden, tratschen, wissen, wie die Gäste das revolutionäre Venezuela erlebten.

Ein Gegner, den Santiago bis dahin nicht gekannt hatte, tauchte im vergangenen Sommer auf, als in seinem Körper Krebs festgestellt wurde. Es gab kaum noch Hoffnung, die Ärzte gaben ihm noch zwei Monate. Aber Santiago nahm den Kampf auf: "Wenn mich fünf Schüsse aus dem Maschinengewehr nicht umgebracht haben, wird mich diese Scheiße auch nicht besiegen!" Noch in diesem April reiste er mit Tanja, die nicht mehr von seiner Seite wich, nach Kuba, das ihm seit Jahrzehnten so viel bedeutete. Am 18. April schließlich verlor Santiago Baez seinen letzten Kampf.

In den zwei Tagen, die er aufgebahrt wurde, sahen seine Angehörigen, wie vielen er etwas bedeutet hatte. Viele, viele Menschen zogen in den zwei Tagen an dem offenen Sarg vorbei, um ihm "Adios" zu sagen, während seine Kampfgefährten die Ehrenwache hielten. Der Sarg war geschmückt mit der kubanischen und der venezolanischen Fahne sowie mit der Fahne des Proyecto Dignidad, des Projektes Würde, einem Zusammenschluss der ehemaligen, immer noch nicht rehabilitierten Guerilleros, und ihrer Nachkommen. An der Wand hing die Fahne der Guerilla. Bevor der Sarg geschlossen wurde sangen die Compañeros die Hymne der Guerilleros und das italienische Partisanenlied "Bella Ciao".

Erschienen in der Wochenzeitung UZ – Unsere Zeit vom 11. Mai 2007