Das Zauberwort Integration (2008 im Rückblick: Lateinamerika)

Würde es dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez gelingen, die Guerilla im Nachbarland Kolumbien zur Freilassung einiger Gefangener zu bewegen? Diese Frage beschäftigte viele Menschen in Lateinamerika vor fast genau einem Jahr. Dramatisches spielte sich ab: Ein erster Befreiungsversuch zwischen den Feiertagen war gescheitert. Die kolumbianischen Streitkräfte führte ausgerechnet in jenem Gebiet Militäroperationen durch, in dem die Übergabe erfolgen sollte. Anfang Januar dann mußte die Regierung in Caracas einräumen, daß zunächst keine keine Gefangenen freikämen.

Doch bereits wenige Tage später gab es erneut eine Wende. Venezuela nahm zwei Freigelassene auf. Wie ausgehandelt, wurden die beiden Frauen per Hubschrauber mit Rotzreuzsymbol ausgeflogen. Fernsehaufnahmen des lateinamerikanischen Nachrichtensenders TeleSur zeigten deren Verabschiedung durch Kämpfer der FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens). Die jahrelang Festgehaltenen telefonierten umgehend mit Chávez, dessen Vermittlung zum Erfolg geführt hatte. Ein Rückschlag für die Hardlinerposition von Kolumbiens Präsident Alvaro Uribe zweifelsohne: Er hatte zusehen müssen, wie Diplomatie und Gespräche zu Ergebnissen führten, die seine Politik der militärischen Gewalt nicht erreichen konnte – zumindest nicht bis zu diesem Zeitpunkt.

Überfall auf FARC-Lager

Ende Juni dann befreite die kolumbianische Armee 15 Gefangene der FARC, darunter die frühere Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt. Was zunächst als logistische Meisterleistung Bogotas gefeiert wurde, entpuppte sich bald als eine Geheimdienst­operation, bei der völkerrechtliche Bestimmungen verletzt wurden. Die kolumbianischen Truppen hatten praktisch die Szenerie vom Januar kopiert: Hubschrauber trugen das Zeichen des Roten Kreuzes, Soldaten hatten sich als Fernsehreporter getarnt und mißbrauchten das Symbol von TeleSur. In den Wochen danach wurde die Vorgeschichte des Coups bekannt. Verschiedenen Quellen war zu entnehmen, daß die kolumbianische Regierung einer unmittelbar bevorstehenden Freilassung Betancourts zuvorgekommen war: Demnach hatte sie den Funkverkehr zwischen Vermittlern und FARC abgehört und die Guerilleros getäuscht. Zudem spielte möglicherweise auch der Verrat eines oder mehrerer FARC-Mitglieder eine Rolle, wie die Organisation kurz darauf in einer Erklärung feststellte.

Dieses war jedoch nicht der schwerste Schlag, den die Guerilla im vergangenen Jahr hinnehmen mußte. Am 1. März hatten kolumbianische Truppen ein FARC-Lager auf dem Staatsgebiet Ecuadors überfallen und die dort schlafenden Guerilleros sowie eine Gruppe lateinamerikanischer Studierender, die sich mit dem FARC-Kommandanten Raúl Reyes getroffen hatten, ermordet. Junge Augenzeugen aus Mexiko, die dem Massaker entkommen konnten, berichteten später, daß die Soldaten auch verletzte Opfer regelrecht hingerichtet hätten.

Der Überfall Kolumbiens brachte die Region an den Rand eines Krieges. Ecuador, Nicaragua und Venezuela riefen ihre Botschafter aus dem Nachbarland zurück und zogen Truppen an der Grenze zusammen. Erst das Eingreifen der Rio-Gruppe, eines Zusammenschlusses von zwei Dutzend Staaten Lateinamerikas und der Karibik, konnte die Krise entschärfen. Uribe mußte sich vor laufenden Kameras bei seinen Amtskollegen entschuldigen, der Überfall wurde einmütig als Verletzung des Völkerrechts verurteilt.

Chávez ging auf die Geste Uribes ein und normalisierte umgehend das Verhältnis zu Bogotá. Die Beziehungen zwischen Kolumbien und Ecuador allerdings sind bis heute unterbrochen. Auch die klare Haltung des nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega, der den Überlebenden des Massakers über mehrere Monate politisches Asyl in Nicaragua gewährte, gefiel dem Regime in Bogotá ganz und gar nicht. Es revanchierte sich mit immer neuen Geschichten, die angeblich aus den Computern von Raúl Reyes stammten. Abwechselnd wurden die Staatschefs Ecuadors, Venezuelas, Brasiliens und anderer Länder, unbequeme Parlamentsabgeordnete und Journalisten aus dem eigenen Land oder auch linke Politiker aus Europa mit der Guerilla in Verbindung gebracht: Zwischen ihnen und Reyes habe es E-Mail-Verkehr gegeben, der nun entdeckt worden sei, so die Version Bogotás. Wie es um deren Glaubwürdigkeit stand, zeigte dann im November die Erklärung eines Ermittlungsbeamten der kolumbianischen Polizei im Fall Reyes: Er sagte gegenüber der Staatsanwaltschaft aus, daß bislang keine einzige Mail gefunden werden konnte. Die Computer hätten nur Textdateien enthalten.

Rechte gegen Morales

Auch wenn Kolumbien absehbar ein Krisenherd auf der politischen Landkarte Südamerikas bleiben wird, war im Laufe der diversen, von dessen Rechtsregierung ausgelösten Zwischenfälle doch eines demonstriert worden: Probleme lassen sich dann politisch durch Verhandlungen, internationale Vermittlung und Diplomatie lösen, wenn die Länder Lateinamerikas zusammenarbeiten – und die USA außen vor bleiben.

So auch im September, als die bolivianische Regierung durch eine Terrorkampagne unter Druck gesetzt worden war. Die rechte Opposition drohte mit der Spaltung des Landes und ging mit offener Gewalt bis hin zum Mord gegen die indigene Bewegung vor und zerstörte Einrichtungen der Zentralregierung. Bereits am 4. Mai hatten mehrere Regionen über »Autonomiestatute« abstimmen lassen. Illegalerweise, denn in der noch gültigen Verfassung ist regionale Autonomie nicht vorgesehen, und die neue Verfassung, die entsprechende Regelungen enthält, wird von der Rechten blockiert.

Die Regierung von Präsident Evo Morales blieb standfest. Über die Provinz Pando, in der auf Befehl des wenig später verhafteten Präfekten ein Massaker an Indígenas verübt worden war, verhängte sie den Kriegszustand, verwies den US-Botschafter des Landes und und bat die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) um Hilfe. Daraufhin berief die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet ein außerordentliches Gipfeltreffen ein, bei dem sich alle Länderchefs der Region – einschließlich der rechten Präsidenten Kolumbiens und Perus –hinter die demokratisch gewählte Regierung in La Paz stellten.

Gipfel in Brasilien

Höhepunkt der neuen Handlungsfähigkeit im Zuge der Integration war jedoch im Dezember das erste Gipfeltreffen Lateinamerikas und der Karibik. Erstmals hatte Brasiliens Präsident Luis Ignacio »Lula« da Silva seine Kollegen aus der ganzen Region zu einem Treffen eingeladen. Im Gegensatz zu anderen Zusammenkünften – wie Iberoamerika-Gipfel oder Treffen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) – verzichtete er jedoch darauf, die traditionellen »Aufpasser« bei solchen Anlässen, vor allem die USA, Spanien und Portugal, einzuladen.

Prompt wurden Washington die Leviten gelesen. Die versammelten Staatschefs forderten die Aufhebung der US-Blockade gegen Kuba. Außerdem solle der 1962 auf US-Betreiben hin erfolgte Ausschluß der Inselrepublik aus der Organsation Amerikanischer Staaten (OAS) rückgängig gemacht werden. »Wenn Kuba nicht in die OAS zurückkommt, brauchen wir eine OAS ohne USA«, brachte Evo Morales die Lage auf den Punkt. Ecuadors Präsident Rafael Correa hatte zuvor einen ähnlichen Vorschlag unterbreitet, während Hugo Chávez bereits einen Namensvorschlag parat hatte: Organisation der Staaten Lateinamerikas und der Karibik, abgekürzt OEALCA, ein Begriff, der als Seitenhieb auf das gescheiterte US-Vorhaben einer gesamtamerikanischen Freihandelszone namens ALCA gelesen werden kann.

2008 war aus südamerikanischer Sicht ein Jahr der Integration. Das geschah auch deswegen, weil Honduras’ Präsident Manuel Zelaya einen Linksschwenk vollzog und sein Land in die Bolivarische Alternative für die Völker Unseres Amerikas (ALBA) führte. Und auch weil in Paraguay die jahrzehntelang herrschende Colorado-Partei abgewählt und mit Fernando Lugo ein Befreiungstheologe an die Spitze des Landes trat. Ein Jahr also, das auf Weiteres hoffen läßt – weit über die Kontinentgrenzen hinaus.

Erschienen am 2. Januar 2009 in der Tageszeitung junge Welt