Das Sterben geht weiter

Für Menschen, die vor Krieg, Elend und Verfolgung aus Afrika oder arabischen Ländern nach Europa flüchten, war 2015 das bislang tödlichste Jahr. Wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) am Dienstag mitteilte, ertranken allein im Mittelmeer 3.771 Flüchtlinge. Mindestens 32 weitere Menschen starben bei dem Versuch, die zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln zu erreichen. Das schlimmste Unglück ereignete sich im vergangenen April, als vor der libyschen Küste ein Schiff unterging und vermutlich mehr als 800 Menschen starben. Nur 28 Flüchtlinge konnten damals gerettet werden.

Ein Ende des Sterbens ist weiter nicht in Sicht. Allein am Dienstag ertranken nach Angaben der türkischen Gendarmerie mindestens 24 weitere Menschen, als ihre Boote auf stürmischer See kenterten. Unter den Opfern, die an den Stränden von Ayvalik angespült wurden, waren mehrere Kinder, berichtete die halbamtliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Beamte der Küstenwache. Der Landrat von Ayvalik, Namik Kemal Nazli, befürchtete gegenüber Journalisten, dass die Zahl der Todesopfer noch steigen könne. Seinen Angaben zufolge stammten die Flüchtlinge aus Algerien, Syrien und dem Irak.

Noch immer gibt es für die Schutzsuchenden praktisch keine legalen Wege nach Europa, so dass sie dazu gezwungen sind, sich in die Hände von Schleuserbanden zu begeben und die lebensgefährliche Überfahrt zu wagen. Unter den so Fliehenden sind immer mehr Frauen und Kinder. Wie das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Ende Dezember mitteilte, stieg der Anteil der Minderjährigen unter den in Griechenland ankommenden Flüchtlingen von 16 Prozent im Juni auf 28 Prozent im November 2015, der Anteil erwachsener Frauen von elf auf 17 Prozent. Als einen Grund dafür sieht der Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, Günter Burkhardt, die immer rigidere Festungspolitik. So konnten bis Februar 2014 in Deutschland lebende syrische Flüchtlinge Angehörige aus dem Kriegsgebiet mit Hilfe eines Programms der Bundesregierung zu sich holen, einige Bundesländer legten ähnliche Programme auf, die aber inzwischen auslaufen. Im November beschloss die Bundesregierung, den Familiennachzug zwei Jahre lang ganz auszusetzen und danach nur noch in engen Grenzen zu gestatten. Der drastische Anstieg des Anteils von Frauen und Kindern unter den Flüchtlingen sei deshalb auch eine Panikreaktion auf die Abschottungssignale aus Deutschland und Europa, warnte Burkhardt. »Viele versuchen nun, die vermeintlich letzte Chance zu ergreifen, aus der Krisenregion zu entkommen.«

Einer Lösung der unmenschlichen Situation sind die EU und ihre Mitgliedsländer noch immer nicht nähergekommen. Während die Abwehr der Schutzsuchenden durch Abkommen mit der Türkei und eine immer weitere Aufrüstung der Grenzschutzagentur Frontex organisiert wird, greifen führende europäische Politiker zu rassistischen Parolen. Der tschechische Präsident Milos Zeman redete in seiner Neujahrsansprache von einer »organisierten Invasion«, durch die Islamisten Europa »schrittweise beherrschen« wollten. Zemans Amtsvorgänger Vaclav Klaus warnte vor einem »Migrationstsunami«. Es gehe darum, »ob wir unsere europäische Kultur, Zivilisation und Lebensweise durch Horden von Menschen zerstören lassen, die von anderen Kontinenten zu uns kommen«, wurde der 74jährige von der Zeitung Lidové noviny zitiert.

Erschienen am 6. Januar 2016 in der Tageszeitung junge Welt