Das Parlament putscht

In Venezuela spitzt sich der Konflikt zwischen den verschiedenen Staatsgewalten zu. Am Montag abend (Ortszeit) erklärte der Oberste Gerichtshof (TSJ) in Caracas alle bisherigen und künftigen Entscheidungen der Nationalversammlung für »null und nichtig«. Die Richter reagierten damit auf die Vereidigung von drei oppositionellen Abgeordneten, deren Mandat sie am 30. Dezember vorläufig suspendiert hatten.

Bei der Konstituierung der Nationalversammlung am 5. Januar hatte der neue Parlamentspräsident Henry Ramos Allup, Chef der sich als sozialdemokratisch verstehenden Rechtspartei Acción Democrática (AD, Demokratische Aktion), die einstweilige Anordnung noch akzeptiert. Nur einen Tag später nahm er jedoch Julio Haron Ygarza, Nirma Guarulla und Romel Guzamana den Amtseid ab. Seither nehmen sie an den Parlamentssitzungen teil und stimmen mit ab. Der TSJ hat dies nun als Missachtung der Justiz verurteilt. Allup kündigte bereits an, auch diese Entscheidung ignorieren zu wollen.

Der Verfassungsrechtler Hermann Escarrá, der eigentlich eher der Opposition zugeneigt ist und 2007 den damaligen Präsidenten Hugo Chávez wegen »Aufwiegelung zum Hass« verklagt hatte, forderte die Legislative auf, die Autonomie der anderen Staatsgewalten zu respektieren. »Die Nationalversammlung verhält sich gesetzwidrig und säumig, wenn sie das Urteil einer der nationalen öffentlichen Gewalten nicht anerkennt«, sagte der Jurist der staatlichen Tageszeitung Correo del Orinoco. Der linke Abgeordnete Pedro Carreño warnte im staatlichen Fernsehen VTV vor einem Putsch durch die Parlamentsmehrheit.

Bei den Wahlen am 6. Dezember hatte die rechte Opposition 112 Abgeordnetensitze in der Nationalversammlung erreicht. Mehrere unterlegene Kandidaten der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) reichten jedoch beim TSJ insgesamt zehn Klagen gegen die Wertung der Ergebnisse ein. Dabei geht es um Stimmenkauf und andere Verletzungen des Wahlgesetzes. Die Richter nahmen die Klagen zur Entscheidung an, doch nur in einem Fall akzeptierten sie den Antrag auf einstweilige Aussetzung der angefochtenen Mandate. Das betrifft insgesamt vier gewählte Politiker im Bundesstaat Amazonas – die drei genannten Oppositionellen und einen Vertreter der PSUV. Durch diese Entscheidung bleibt die Rechte bis zu einer endgültigen Gerichtsentscheidung unter der Zweidrittelmehrheit, mit der sie Verfassungsänderungen initiieren oder Organgesetze ändern könnte.

Offenbar folgt das rechte Lager jedoch den Beispielen in Honduras und Paraguay, wo reaktionäre Parlamentsmehrheiten zur Durchführung von »weichen Staatsstreichen« genutzt wurden. Dort hatten sich die Putschisten auf das Militär stützen können, das etwa in Honduras am 28. Juni 2009 den demokratisch gewählten Präsidenten Manuel Zelaya in seiner Residenz überfiel und ins Exil zwang. In Venezuela haben die Bolivarischen Streitkräfte dagegen bislang klargemacht, dass sie sich an Recht und Gesetz halten werden und loyal zur Regierung stehen. Auch die Unterstützer des revolutionären Prozesses wollen sich die Errungenschaften der vergangenen anderthalb Jahrzehnte nicht kampflos nehmen lassen. Am Dienstag demonstrierten Tausende Erdölarbeiter in Caracas ihre Unterstützung für die gewählte Regierung und gegen die Provokationen der rechten Abgeordneten.

Erschienen am 13. Januar 2016 in der Tageszeitung junge Welt