junge Welt, 16.11.2016

Das lautere Übel gewinnt

Mehrere tausend Menschen sind in der Nacht zum Mittwoch in mehreren Städten der USA spontan auf die Straße gegangen, um gegen die Wahl des Immobilienmilliardärs Donald Trump zum neuen Präsidenten zu protestieren. An der University of California in Los Angeles versammelten sich nach Medienberichten rund 3.000 Studierende. Auch aus Oakland und Seattle sowie den Bundesstaaten Oregon und Pennsylvania wurden Proteste gemeldet.

Kurz zuvor hatten die US-Medien Trump zum neuen Staatschef erklärt und damit das Debakel der Demokratischen Partei offiziell gemacht. Diese verlor nicht nur das Ringen um das höchste Staatsamt, sondern konnte auch die republikanische Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus nicht brechen. Den Sieg verdankt Trump allerdings dem archaischen US-Wahlsystem, denn in absoluten Zahlen lag er nach Auszählung von 97 Prozent der Wahllokale um rund 130.000 Stimmen hinter Hillary Clinton zurück. 47,5 Prozent für ihn gegenüber 47,6 Prozent für sie hätten in einem demokratischen Land ein anderes Ergebnis bedeutet.

In den USA sind für die Entscheidung über den Staatschef jedoch die Wahlmänner und -frauen entscheidend. 270 von ihnen braucht ein Kandidat, um gewählt zu werden. Entschieden wird über diese in den einzelnen Bundesstaaten – wer dort auch nur eine Stimme mehr hat als die Konkurrenz, stellt alle Delegierten. Trump konnte so am Dienstag mindestens 276 Wahlleute gewinnen, nach Prognosen von Fernsehsendern dürften es sogar 288 sein. Nach einem auf die Zeiten der Postkutsche zurückgehenden Verfahren kommen diese Repräsentanten am 19. Dezember in den einzelnen Staaten und in Washington D.C. zusammen, um ihre Stimmen in versiegelten Umschlägen abzugeben. Diese werden dann an den Kongress in der Hauptstadt weitergeleitet, wo die Voten am 6. Januar ausgezählt werden. Zwei Wochen danach, am 20. Januar, wird Trump vor dem Kapitol, dem Sitz des Kongresses, vereidigt.

In einer ersten Rede nach Bekanntwerden der Ergebnisse versprach Trump, »unsere Nation wiederaufzubauen und den Amerikanischen Traum neu zu beleben«. Die »vergessenen Männer und Frauen unseres Landes« würden nicht mehr vergessen werden: »Wir werden uns um unsere sozialen Brennpunkte kümmern und unsere Straßen, Brücken, Tunnel, Flughäfen, Schulen und Krankenhäuser wiederaufbauen. Wir werden unsere Infrastruktur, die übrigens allen überlegen sein wird, wiederaufbauen. Und wir werden bei diesem Wiederaufbau Arbeitsplätze für Millionen Menschen schaffen.« An die »Weltgemeinschaft« gerichtet verkündete Trump: »Auch wenn wir Amerikas Interessen immer an erste Stelle setzen werden, werden wir mit allen fair umgehen, mit allen. Allen Völkern und allen anderen Nationen. Wir werden gemeinsame Grundlagen anstreben, nicht Feindseligkeit. Partnerschaft, nicht Konflikt.«

Für die scharfen Töne könnte künftig Trumps Vizepräsident Michael »Mike« Pence zuständig sein. Der evangelikale und erzreaktionäre bisherige Gouverneur des Bundesstaates Indiana gilt in der republikanischen Partei als Garant dafür, dass sich Trump nicht etwa doch noch als »linksliberal« entpuppt. Im vergangenen Jahr hatte Pence ein Gesetz zur »Religionsfreiheit« unterzeichnet, das es Geschäften erlaubte, homosexuelle Kunden abzuweisen. Im Wahlkampf räsonierte er über US-Bombenangriffe auf den syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad, die sein künftiger Chef ablehnte.

Wahlverliererin Clinton hatte es dagegen zunächst die Sprache verschlagen. In der Nacht sagte sie alle Auftritte ab, die in New York versammelten Anhänger wurden nach Hause geschickt: »Versucht, etwas Schlaf zu bekommen«, sagte ihr Wahlkampfchef John Podesta. »Wir werden morgen mehr zu sagen haben.«

Erschienen am 10. November 2016 in der Tageszeitung junge Welt