Constituyente in Venezuela: Befreiungsschlag

Nicolás Maduro hat die Opposition kalt erwischt. Mit seiner Ankündigung vom 1. Mai, eine Verfassunggebende Versammlung, die Constituyente, einzuberufen, hat er den Regierungsgegnern praktisch alle Argumente und Forderungen aus der Hand genommen, die sie bislang vorgebracht hatten. Die wütenden Reaktionen von rechts spiegeln das wider. Nachdem die Opposition jahrelang nach »Wahlen« gerufen und – ja, auch das – eine Verfassunggebende Versammlung verlangt hatte, steht sie nun mit leeren Händen da.

Maduro »Betrug« vorzuwerfen, ohne auch nur den Text des Dekrets genauer gelesen zu haben – es sollte erst am Mittwoch in der Gaceta Oficial, dem amtlichen Anzeiger, veröffentlicht werden –, zeugt nicht von Souveränität. Indem man das Wahlverfahren schon ablehnt, bevor es überhaupt konkret festgelegt ist, soll die künftige Versammlung von Anfang an diskreditiert werden. In den internationalen Mainstreammedien werden sich dafür dankbare Abnehmer finden. Ob es aber auch in Venezuela verfängt, ist fraglich.

Den Oppositionsführern ist vollkommen klar, dass die Constituyente für Venezuelas Linke ein Befreiungsschlag ist. Seit dem Tod von Hugo Chávez 2013 kam das bolivarische Lager nicht mehr aus der Defensive heraus. Die Machenschaften der Reaktion und des Imperialismus anzuprangern, auf den Wirtschaftskrieg, eine Finanzblockade und die niedrigen Ölpreise zu verweisen, wurde auf Dauer langweilig. Die Führung einer Revolution – und als solche versteht sich Venezuelas Regierung nach wie vor – hat die Verpflichtung, eine gegen alle Widerstände erfolgreiche Strategie zu entwickeln und nicht nur die Schwierigkeiten zu beklagen.

Ob die Verfassunggebende Versammlung diese Strategie ist, wird sich zeigen. In den kommenden Wochen und Monaten dürfte nun jedenfalls weniger über die Person Maduros diskutiert werden, dafür mehr über die programmatischen Vorschläge der verschiedenen Seiten. Das heterogene Lager der Regierungsgegner hat ausformulierte Alternativen jedoch kaum vorzuweisen. Das angestrebte neue Wahlverfahren könnte zudem tatsächlich der Ansatz für eine demokratischere Alternative zu herkömmlichen Abstimmungen in bürgerlichen Systemen sein. Wenn es gelingt, dass nicht nur Parteien mit ihren populistischen und oft genug verlogenen Parolen Wahlkampf machen, sondern die Angehörigen der verschiedenen sozialen Gruppen direkt ihre Vertreterinnen und Vertreter bestimmen, wäre das unter diesen Bedingungen etwas Neues und Zukunftsweisendes.

Es bleibt abzuwarten, ob ein Wahlverfahren entwickelt werden kann, das diesem Anspruch gerecht wird. Bislang rutschte auch die partizipative Demokratie in Venezuela meist in repräsentative Modelle ab. In der Folge machten sich an entscheidenden Stellen im Staatsapparat Bürokraten breit, die kein Interesse an einer wirklichen Revolution haben. Die Constituyente kann eine Chance bieten, diese Verkrustung aufzubrechen.

Erschienen am 4. Mai 2017 in der Tageszeitung junge Welt