Chile rebelliert

In Chile sind am Wochenende die Auseinandersetzungen zwischen Regierungsgegnern und dem Regime von Präsident Sebastián Piñera eskaliert, mindestens drei Menschen wurden getötet. Der Staatschef rief für Santiago und Valparaíso sowie drei Provinzen den Notstand aus, um die »öffentliche Ordnung zu normalisieren«, und schickte zum ersten Mal seit dem Ende der Pinochet-Diktatur das Militär auf die Straßen der großen Städte, um Proteste niederzuschlagen. Im Internet kursierten Bilder und Videos, die an den Putsch 1973 gegen Salvador Allende erinnern: Schwerbewaffnete Soldaten machten in der Hauptstadt Jagd auf Demonstranten, Panzer blockierten die Straßen. General Javier Iturriaga verhängte eine Ausgangssperre über mehrere Provinzen.

Die Proteste hatten sich Ende vergangener Woche an Preissteigerungen für die U-Bahn von Santiago entzündet. Vor allem Studierende besetzten daraufhin Metro-Stationen – und wurden dabei von den Beschäftigten der Verkehrsbetriebe unterstützt. »Wir Arbeiter der Metro sind keine Feinde der Studenten, und die Studenten sind keine Feinde der Metro-Arbeiter«, erklärte der Vorsitzende des Gewerkschaftsföderation, Eric Campos, am Donnerstag (Ortszeit) bei einer Pressekonferenz, obwohl es zu Brandanschlägen auf Einrichtungen des Unternehmens gekommen war. Man müsse nicht mit den Aktionsformen der Protestierenden einverstanden sein, aber die Forderung nach Rücknahme der Preiserhöhung sei legitim, so Campos. Er forderte die Regierung auf, die paramilitärischen Carabineros aus den U-Bahn-Stationen abzuziehen und Gespräche mit Studierenden und Beschäftigten aufzunehmen.

Dem beugte sich Piñera am Sonnabend zumindest teilweise. Vor Pressevertretern kündigte er an, die Preiserhöhung auszusetzen und einen Dialog mit den Bürgern aufzunehmen. Alle Bürger hätten das Recht, friedlich zu demonstrieren, »und sie haben gute Gründe, das zu tun«. Trotzdem ging die Repression weiter. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chiles, Guillermo Teillier, forderte Piñera daraufhin auf, den Notstand aufzuheben. Das Militär auf die Straße zu schicken, bedeute, die Regierung des Landes den Uniformierten zu überlassen. »Wenn er nicht regieren will und sich hinter den Militärs versteckt, wäre es das beste, zurückzutreten und umgehend Neuwahlen einzuberufen«, forderte Teillier.

Die Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes CUT, Bárbara Figueroa, erklärte am Sonntag, ein gesellschaftlicher Dialog sei nicht möglich, solange das Militär auf der Straße bleibe. »Ein Notstand in dieser Situation ist nur mit dem vergleichbar, was wir bei Protesten unter der Diktatur erlebt haben. Er zeigt das völlige Scheitern dieser Regierung.« Die Gewerkschaft der Hafenarbeiter rief am Sonntag zu Arbeitsniederlegungen auf: »Chile muss aus seiner Lethargie erwachen.«

Mit einer schnellen Beruhigung der Lage ist nach Ansicht vieler Beobachter nicht zu rechnen. Die Erhöhung der Fahrpreise sei nur der Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe. Der Rundfunksender Radio Bío Bío erinnerte am Sonnabend an die »chronische soziale Ungleichheit, niedrige Renten, Tariferhöhungen bei der Strom- und Gesundheitsversorgung«. Zudem hätten bekanntgewordene Korruptionsfälle bei Polizei und Armee sowie die Kriminalisierung der Studierendenbewegung für Unmut gesorgt. »All das bildete einen Cocktail, der die größten sozialen Proteste der vergangenen Jahrzehnte in unserem Land ausgelöst hat«, so Claudia Miño auf der Homepage des Senders.

Erschienen am 21. Oktober 2019 in der Tageszeitung junge Welt