Caracas gibt sich frei

Am Tag nach der Präsidentschaftswahl herrschte in Caracas Ruhe wie an einem Feiertag. Die meisten Geschäfte blieben geschlossen, auf den Straßen der Hauptstadt gab es erheblich weniger Verkehr als an normalen Tagen. Viele Büros und Unternehmen hielten, wenn nötig, ihren Betrieb nur mit einer Notbesetzung aufrecht. Offiziell war diese Arbeitsruhe nicht, doch augenscheinlich wollten sich viele von den Siegesfeiern erholen, die sich nach der offiziellen Bekanntgabe der Wiederwahl von Präsident Hugo Chávez bis in die Morgenstunden des Montags fortgesetzt hatten. Ohnehin wäre es kaum möglich gewesen, aus der Innenstadt nach Hause zu kommen – die Metro hatte ihren Betrieb planmäßig um 23 Uhr eingestellt, und Taxis oder Busse konnten auf den von Menschen überfüllten Straßen nicht vorankommen. Anhänger des unterlegenen Oppositionskandidaten Henrique Capriles Radonski hingegen widmeten sich am Montag ihrer Frustration, hatten sie diesmal doch fest damit gerechnet, siegen zu können. »Chávez hat nur noch einen einzigen Tag im Präsidentenpalast Miraflores«, hatte einer von ihnen noch am Sonnabend gegenüber junge Welt geäußert.

Im Vorfeld des Wahltags hatten linke Medien über Pläne der Regierungsgegner berichtet, ein für sie ungünstiges Ergebnis nicht anerkennen und zu gewaltsamen Protesten aufrufen zu wollen. Für Anspannung hatten am Sonntag zudem Hackerangriffe auf die Internetpräsenzen von regierungsnahen Medien wie dem staatlichen Rundfunk Radio Nacional de Venezuela gesorgt. Doch weder während der Stimmabgabe noch am Montag waren in der Hauptstadt nennenswerte Unruhen zu verzeichnen. Lediglich auf der Plaza Altamira im gleichnamigen Nobelviertel steckten einige Dutzend Jugendliche Müllhaufen in Brand, um gegen den von ihnen vermuteten »Betrug« zu protestieren.

Zu der Ruhe hatte zum einen das deutliche Wahlergebnis beigetragen, das mit zehn Prozentpunkten Vorsprung für den Amtsinhaber wenig Raum für Spekulationen gelassen hatte. Zum anderen hatte aber auch Capriles bereits wenige Minuten nach der Veröffentlichung der ersten offiziellen Zahlen durch den Nationalen Wahlrat (CNE) in einer von den meisten Fernsehsendern Venezuelas übertragenen Ansprache dem wiedergewählten Präsidenten zu dessen Erfolg gratuliert und seine eigene Niederlage eingestanden. Über den Internetdienst Twitter rief er seine Anhänger auf, das Ergebnis zu akzeptieren. »Fast die Hälfte des Landes hat mir geholfen, einen Weg zu ebnen«, teilte er mit und kündigte an: »Ich werde weiterarbeiten.« Damit hatte er Protesten seiner Anhänger den Boden entzogen. In der Parroquia El Recreo, einem Mittelschichtsviertel in Caracas, in dem er fast 64 Prozent der Stimmen erhalten hatte, herrschte am späten Sonntag abend gespenstische Stille. In den Tagen zuvor hatten die Oppositionellen hier schon ihren sicher geglaubten Sieg gefeiert oder mit Kochgeschirr Lärm gemacht, um gegen den Präsidenten Stimmung zu machen.

Einige der Regierungsgegner richten ihre Enttäuschung nun gegen die eigene Führung. Der katholische Priester José Palmar, ein radikaler Feind des Präsidenten (»Lieber Märtyrer werden als vor Chávez knien«), warf dem Oppositionsbündnis »Tisch der demokratischen Einheit« (MUD) vor, das veröffentlichte Wahlergebnis mit Chávez ausgehandelt zu haben: »Wir glauben weder dem CNE noch dem MUD oder sonst jemandem, der in seinem Gewissen Taschen aufhält, damit Chávez sie mit Geldscheinen füllt.« In Internetblogs oder auf der Videoplattform YouTube breiteten sich vor allem jüngere Oppositionelle über angebliche Manipulationen aus und konnten sich dabei auf den ultrarechten US-Fernsehsender Fox News berufen, der am Sonntag von »Betrugsvorwürfen in Venezuela« gesprochen hatte, »nachdem sich Hugo Chávez zum Sieger der Wiederwahl erklärt hat«.

In dieser Situation fühlte sich das Oppositionsbündnis gezwungen, an die Öffentlichkeit zu gehen. »Es gibt keinen Beweis für irgendeinen Betrug«, unterstrich MUD-Chef Ramón Guillermo Aveledo. »Wir sind geschlagen worden, wen sollten wir betrügen?« wies er Vorwürfe aus den eigenen Reihen zurück, Belege für Manipulationen zurückzuhalten. Er sei stolz auf die sechs Millionen Menschen, die für Capriles gestimmt hätten, »aber auch die acht Millionen, die Chávez gewählt haben, verdienen Respekt«.

Erschienen am 10. Oktober 2012 in der Tageszeitung junge Welt