Caracas blieb frei

Dienstag morgen, in Venezuela ist es sechs Uhr. Der Oppositionspolitiker Juan Guaidó verbreitet im Internet ein offenbar per Handy aufgenommenes Video, das ihn umgeben von uniformierten und bewaffneten Soldaten zeigt. Er behauptet, dass er sich in der Luftwaffenbasis »La Carlota« befinde, die »entscheidende Phase der Operation Freiheit« habe begonnen. Hinter ihm ist Leopoldo López zu sehen, der bislang nach einer Verurteilung wegen Aufstachelung zur Gewalt in Hausarrest gesessen hatte. Guaidó ruft seine Anhänger auf, die Straßen und Plätze ganz Venezuelas zu füllen.

Wenige Minuten später meldet sich als erster Regierungsvertreter Informationsminister Jorge Rodríguez zu Wort. Über Twitter teilt er mit, dass eine kleine Gruppe »verräterischer Militärs« am Autobahnkreuz Altamira im Osten der Hauptstadt Caracas in Stellung gegangen sei. Dieser Versuch eines Staatsstreichs werde gerade »deaktiviert«. Etwa eine weitere halbe Stunde später stellt Verteidigungsminister Vladimir Padrino López klar, dass in den Kasernen und Stützpunkten des Landes Ruhe herrscht.

Rund anderthalb Stunden nach Beginn der Revolte, um 7.30 Uhr, sendet das staatliche Fernsehen VTV ein telefonisches Statement von Diosdado Cabello. Als Präsident der Verfassunggebenden Versammlung und Vizechef der Regierungspartei PSUV gilt er nach Staatsoberhaupt Nicolás Maduro als »Nummer zwei« im venezolanischen Machtapparat. Er warnt die aufständischen Militärs, dass man Gewalt einsetzen werde, und ruft das Volk auf, sich am Präsidentenpalast Miraflores zu versammeln, um die verfassungsmäßige Ordnung zu verteidigen.

Um 9.30 Uhr kommt es am Autobahnkreuz Altamira zu Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und oppositionellen Demonstranten, die dem Aufruf Guaidós gefolgt sind. Der Überraschungsmoment, den die Putschisten zunächst hatten, ist vorbei. Doch international versuchen Massenmedien, den Eindruck eines um sich greifenden Aufstandes zu vermitteln. Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel solidarisiert sich mit seinem venezolanischen Amtskollegen: »Wir verurteilen diese Putschbewegung, die darauf abzielt, das Land mit Gewalt zu überziehen.« Ganz anders Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD), der während eines Besuchs in Brasilien mitteilt: »Unsere Unterstützung für Juan Guaidó hat sich in keiner Weise geändert.«

Derweil befindet sich Madelein García, eine Reporterin des Fernsehsenders Telesur, auf dem Gelände der Luftwaffenbasis »La Carlota« und berichtet live, dass das Gelände nach wie vor unter Kontrolle der loyalen Truppen sei. Der Sender überträgt, wie militante Demonstranten von außen einen Zaun um das Gelände einreißen, von Soldaten jedoch zunächst gewarnt und dann unter Einsatz von Tränengas zurückgedrängt werden. García interviewt einen der aufständischen Offiziere, Jairo Betermini. Er berichtet, dass er mit seinen Leuten am Vorabend Befehl erhalten habe, die Galauniformen bereitzulegen, weil sie am nächsten Morgen eine Nachricht erhalten würden, »die unser Leben verändern wird«. Um drei Uhr morgens seien sie alarmiert worden, um die Strafanstalt Tocorón zu besetzen. Die Insassen dort hätten sich bewaffnet und wollten gegen das Volk vorgehen, habe man den Soldaten mitgeteilt. Als Treffpunkt mit anderen Einheiten sei Altamira angegeben worden.

An dem Autobahnkreuz angekommen, habe man ihnen blaue Armbinden gegeben und ihnen befohlen, die Schnellstraße zu blockieren. Erst in diesem Augenblick sei ihnen mitgeteilt worden, dass es sich um einen Staatsstreich handelt, so Betermini. Seine Gruppe habe daraufhin Kontakt mit dem Befehlshaber des zentralen Militärbezirks, Generalmajor Alexis Rodríguez Cabello, aufgenommen, um sich wieder den loyal zur Regierung stehenden Einheiten anzuschließen.

Um 17.15 Uhr mitteleuropäischer Zeit – in Venezuela ist es 11.15 Uhr – sendet die Deutsche Presseagentur eine Zusammenfassung über die Ereignisse in Caracas. Guaidó habe ein »Husarenstück« gewagt. Ihm sei »ein neuer Coup« gelungen: »Er zieht Soldaten auf seine Seite und befreit Oppositionsführer López aus dem Arrest.«

Um wenige Minuten vor zwölf Uhr mittags teilt Verteidigungsminister Padrino López vor der Presse mit, dass der Putsch aufgrund fehlender Unterstützung durch die Streitkräfte gescheitert sei. 80 Prozent der in Altamira eingesetzten Soldaten seien von Vorgesetzten betrogen worden und hätten sich freiwillig zurückgezogen. Wenig später sorgt ein Video für Aufregung. Die Nachrichtenagentur AFP meldet: »Ein gepanzertes Militärfahrzeug hat am Dienstag in Venezuela eine Gruppe von Demonstranten gerammt. Das Fahrzeug überrollte protestierende Menschen in der Hauptstadt Caracas vor der Luftwaffenbasis ›La Carlota‹, wie Fernsehbilder zeigten.« Tatsächlich sieht man auf dem Video, wie Militante drei Wasserwerfer mit Steinen und Brandsätzen attackieren. Eines der Fahrzeuge fährt in dieser Situation auf die Menge zu und dabei über ein Hindernis, ein Erdhügel zwischen den Fahrbahnen. Dabei verliert der Fahrer offenbar kurzzeitig die Kontrolle und stößt in die Gruppe hinein. Nach Angaben oppositioneller Medien wird in dieser Situation eine Person verletzt.

Die inzwischen sichtbar geschrumpfte Gruppe aufständischer Militärs um Guaidó und López begibt sich derweil auf die Plaza Altamira in dem gleichnamigen Viertel der gehobenen Mittelschicht. Die Plaza ist ein symbolträchtiger Ort, hier hatten nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Hugo Chávez im Jahr 2002 beteiligte Offiziere ein Camp aufgeschlagen und den Platz über Monate besetzt gehalten. Die Putschisten kündigten an, ihre Anhänger sammeln und gemeinsam in das Stadtzentrum marschieren zu wollen. Der Zug, in dem sich Berichten zufolge noch etwa zehn aufständische Soldaten befinden sollen, wird nach kurzem Weg von Sicherheitskräften unter Einsatz von Tränengas gestoppt.

Die US-Administration stellt sich hinter die Putschisten. »Die Vereinigten Staaten stehen auf der Seite des Volkes von Venezuela und seiner Freiheit«, twittert Donald Trump. Sicherheitsberater John Bolton droht Verteidigungsminister Padrino, Gerichtspräsident Maikel Moreno und dem Chef der militärischen Gegenspionage, Iván Hernández: »Eure Zeit ist abgelaufen. Dies ist eure letzte Chance. Akzeptiert die Amnestie von Interimspräsident Guaidó, schützt die Verfassung und stürzt Maduro …« Elliott Abrams, Trumps Sonderbeauftragter für Venezuela, behauptet derweil gegenüber Journalisten, es habe »interessante Verhandlungen mit Venezolanern innerhalb und außerhalb des Regimes« gegeben. Doch offenbar würden diese »heute keinen Schritt nach vorn tun«. Der Putsch ist gescheitert. Er hat Dutzende Verletzte gefordert.

Video: kurzlink.de/wasserwerfer

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Erschienen am 4. Mai 2019 in der Tageszeitung junge Welt