Bundestag verliert Krieg

Sie haben alles daran gesetzt, den Krieg in Afghanistan aus dem Bundestagswahlkampf herauszuhalten. Weder die amtierende schwarz-gelbe Regierungskoalition noch SPD und Grüne wollen sich gern daran erinnern lassen, daß sie seit 2001 die Okkupation des Landes am Hindukusch stramm mitgetragen haben. Auch deshalb wurde das Afghanistan-Mandat für die Bundeswehr Anfang des Jahres von 435 der 620 Bundestagsabgeordneten gleich bis Februar 2014 verlängert – um jede Debatte darüber vor der Wahl zu vermeiden. Die meisten Massenmedien haben ohnehin längst vergessen, wie sie damals Jubelberichte über afghanische Mädchen verbreiteten, die dank der NATO-Soldaten endlich ihren Schleier ablegen konnten. Doch nun fällt ihnen die Realität auf die Füße.

 

Während am Montag für die Kameras aus dem afghanischen Masar-i-Scharif kommende Bundeswehrfahrzeuge im türkischen Schwarzmeerhafen Trabzon nach Deutschland verschifft wurden, meldete die Nachrichtenagentur dpa unter Berufung auf das afghanische Verteidigungsministerium, daß allein an diesem Tag mindestens 100 Menschen den Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Aufständischen zum Opfer gefallen seien. So wurden bei Operationen in den Provinzen Logar und Nagarhar 83 Taliban-Kämpfer getötet. In Sabul seien bei einem Bombenanschlag elf Menschen getötet worden, unter ihnen der stellvertretende Polizeichef des Distrikts Schahdschoi. Im benachbarten Kandahar tötete eine Bombe eine Mutter sowie deren Töchter im Alter von 14 und 15 Jahren.

In Berlin und Washington macht man sich inzwischen vor allem Sorge um den eigentlich als Marionette installierten Statthalter Hamid Karsai, der am Ende seiner Amtszeit aufmüpfig wird. Bei der für April 2014 vorgesehenen Präsidentschaftswahl darf er nicht mehr antreten, und so geht es ihm inzwischen um seinen Platz in der Geschichte. Der Friedensprozeß müsse durch Verhandlungen zwischen den Afghanen und ohne ausländische Einmischung stattfinden, verlangt er. Anfang Juli berichtete die New York Times sogar, die USA würden »aus Ärger über Karsai« erwägen, ihre Truppen im kommenden Jahr vollständig vom Hindukusch abzuziehen, nachdem US-Präsident Barack Obama und Karsai ihre Differenzen nicht hätten beilegen können. Ohne die USA aber gäbe es kaum eine Basis für einen Verbleib der Bundeswehr in Afghanistan. Aus einem Etikettenschwindel – der bisherige »Kampfeinsatz« sollte zu einem »Stabilisierungsauftrag« umgetauft werden, für den bis zu 800 Soldaten in Afghanistan bleiben sollten – würde tatsächlich ein Abzug werden. Deutschland hätte ganz offensichtlich mal wieder einen Krieg verloren.

Selbst der Spiegel schreckt inzwischen nicht mehr vor historischen Vergleichen zurück: »Nach mehr als zehn Jahren Krieg und über 3300 toten alliierten Soldaten steht die Mission auf der Kippe. Der überstürzte US-Rückzug aus Vietnam war ein abschreckendes Beispiel dafür, wie die internationale Schutztruppe ISAF es nicht machen darf.« Schon im Juni hatte auch der EU-Geheimdienst INTCEN in Brüssel den Krieg in Afghanistan verloren gegeben und als Perspektive des Landes eine »Zweiteilung in einen von Taliban beherrschten Teil und ein vom organisierten Verbrechen diktiertes Gebiet« prognostiziert (jW berichtete). Und in einer vom US-Network ABC und der Washington Post am vergangenen Freitag veröffentlichten Umfrage erklärten zwei Drittel der befragten US-Amerikaner, der »Einsatz« in Afghanistan sei »den Preis« nicht wert gewesen.

Erschienen am 30. Juli 2013 in der Tageszeitung junge Welt