Boykott brechen

Einwohner der nicaraguanischen Hauptstadt Managua haben Ende vergangener Woche vor dem Gebäude des Obersten Gerichtshofs (CSJ) für eine schnellere Behandlung ihrer Anliegen durch die Justiz demonstriert. »Richter, macht eure Arbeit« und »Verspätete Gerechtigkeit ist keine Gerechtigkeit« hieß es auf Plakaten. »Wir wollen, daß sie Verfahren durchführen, daß sie arbeiten, denn dafür bezahlt das Volk sie und das schulden sie den Nicaraguanern«, sagte eine der Protestierenden der sandinistischen Zeitschrift El 19.

Hintergrund des seit Monaten schwelenden Konflikts ist der Streit zwischen der Regierung von Präsident Daniel Ortega und der rechten Opposition um die Ablösung von Richtern, deren Amtszeit abläuft. Nachdem die Regierungsgegner im Parlament monatelang die Wieder- oder Neuwahl von Richtern blockiert hatten, erließ Ortega im Januar ein Dekret, wonach die jeweiligen Amtsinhaber ihre Funktion weiter ausüben müssen, bis ihre Nachfolger bestimmt sind. Der Staatschef berief sich dabei auf Artikel 201, Absatz 2 der nicaraguanischen Verfassung von 1987, wonach gewählte Beamte im Amt bleiben, solange die Abgeordneten keine Nachfolger bestimmt haben, und löste damit eine heftige Debatte unter den Juristen aus. Das sei eine bei der Verfassungsreform 1990 aufgehobene Übergangsbestimmung gewesen, wetterten Oppositionsvertreter.

Tatsächlich taucht der zweite Absatz dieses Artikels in allen später veröffentlichten Ausgaben der Magna Charta nicht mehr auf. Darauf angesprochen, sagte Parlamentspräsident René Núñez, das sei ein Fehler bei der Veröffentlichung gewesen. Es gäbe nirgendwo ein Protokoll über eine Änderung des zweiten Absatzes dieses Artikels, lediglich der erste Absatz sei 1990 verändert worden. »Solange der Artikel nicht aufgehoben wird, ist er gültig und verpflichtet alle Beamten der Wahlbehörden und der Judikative dazu, solange im Amt zu bleiben, bis ihre Nachfolger ernannt sind«, erklärte Núñez.

Die der liberalen Opposition nahestehenden Richter erkennen diese Argumentation jedoch nicht an und haben ihre Arbeit seit Monaten eingestellt. Lediglich die den Sandinisten verbundenen Rafael Solís und Armengol Cuadra unterstützen die Rechtsauffassung der Regierung. Die seit Juni amtierende CSJ-Sprecherin Alba Luz Ramos kündigte nun an, die Krise im Laufe dieser Woche beenden zu wollen. »Wir hier anwesenden (sandinistischen Richter) werden das Problem auf jeden Fall lösen, denn wir sind uns bewußt, daß fast zwei Monate ohne ein einziges Urteil, ohne eine einzige Gerichtsentscheidung für das Volk zu viel sind«, sagte Ramos gegenüber den Demonstranten. Dazu werde sie die stellvertretenden Richter einberufen. Entsprechend der nicaraguanischen Verfassung hatte das Parlament vor drei Jahren 16 Rechtsanwälte als solche vereidigt, damit sie eigentlich einspringen können, wenn die eigentlichen Richter zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen zeitweilig verhindert sind.

Politische Beobachter sind sich einig, daß die juristische Debatte nur vorgeschoben ist. Ebenso wie bei dem monatelangen Sitzungsboykott durch die oppositionellen Parlaments­abgeordneten zu Jahresbeginn geht es auch in diesem Fall ganz offensichtlich darum, die sandinistische Regierung zu destabilisieren. Trotzdem hat Präsident Ortega gute Chancen, bei den Wahlen im kommenden Jahr in seinem Amt bestätigt zu werden. Mitte Juli ergab eine Meinungsumfrage des Instituts Encuestadora, daß sich Ortega mit 53,9 Prozent der Stimmen durchsetzen würde, wenn sein Gegner der frühere Staatschef Arnoldo Alemán von der Konstitutionalistischen Liberalen Partei (PLC) wäre. Auch andere führende Oppositionsvertreter hätten demnach keine Chance, Ortega zu schlagen.

Erschienen am 2. August 2010 in der Tageszeitung junge Welt