Bogotás Wundertüte

Am 1. März 2008 überfielen kolumbianische Truppen ein Lager der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC), das diese auf ecuadorianischem Staatsgebiet errichtet hatten. In diesem Camp hatten hochrangige Vertreter der Guerilla Teilnehmer einer parallel in Quito stattfindenden »Kontinentalen Bolivarischen Konferenz« empfangen, die sich aus erster Hand über die Ansichten der FARC informieren wollten. Unter ihnen befand sich eine Gruppe mexikanischer Studenten, die bei dem Angriff genauso getötet wurden wie der als internationaler Sprecher der FARC geltende Comandante Raúl Reyes.

Bei der Aktion, die Südamerika an den Rand eines internationalen Krieges brachte, erbeutete die kolumbianische Armee eigenen Angaben zufolge mehrere tragbare Computer, die Reyes gehört haben sollen. Seither präsentieren die Behörden in Bogotá die darauf enthaltenen Daten wie eine Wundertüte, aus der man sich je nach Konjunktur und politischer Stimmungslage bedienen kann, um Oppositionelle im eigenen Land oder ausländische Spitzenpolitiker der Unterstützung der FARC zu bezichtigen.

Bereits 2008 mußte jedoch der kolumbianische Fernsehsender »Canal Uno« berichten, daß auf dem ominösen Rechner keine einzige E-Mail gefunden worden sei. Gegenüber der Staatsanwaltschaft habe Hauptmann Ronald Ayden Coy Ortiz von der Antiterrorismus-Abteilung der kolumbianischen Kriminalpolizei (DIJIN) unter Eid ausgesagt: »E-Mails haben wir bislang nicht gefunden. Es wurde eine große Menge von E-Mail-Adressen gefunden, aber Reyes speicherte die Informationen in Word und Microsoft-Programmen.« Ohnehin war die Glaubwürdigkeit der gespeicherten Daten von Anfang an in Frage gestellt worden. Juristen kritisierten, daß nicht nachvollziehbar sei, wer wann Zugriff auf die Computer gehabt habe. Auch die Staatsanwaltschaft Ecuadors erklärte, die ihr von Kolumbien übergebenen Dateien, die von Reyes’ Computern stammen sollen, seien manipuliert worden. Von 45 Dateien hätten 40 dasselbe Datum der Erstellung, der letzten Änderung und des letzten Zugriffs sowie Zeitmarken, die allesamt von vor dem 1. März 2008 – dem Tag des Überfalls auf die FARC – stammten. Die kolumbianischen Behörden hatten diese Dateien jedoch eigenen Angaben zufolge zwischen dem 1. und 3. März untersucht, so daß sich diese Zugriffe hätten nachweisen lassen müssen, wenn es zu keiner nachträglichen Manipula­tion gekommen wäre.

Erschienen am 27. April 2011 in der Tageszeitung junge Welt